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Nachricht einer Stolzenburgerin an ihre Eltern.
Sie durfte das russische Arbeitslager im April 1947 verlassen,
 
wurde aber nicht nach Siebenbürgen sondern nach Löbau in Ostdeutschland geschickt.
Es gelang ihr dann schließlich nach Hause zurückzukehren.
Postkarte_Katharina_H-Vorderseite
Postkarte_Katharina_H-Rueckseite
Foto z. V. gestellt von Marianne Galbacs
 
Meine lieben guten Eltern.  Löbau, 17.IV.(?) 1947
In Freud und Leid schreib ich euch meine Lieben. Ich bin näher der Heimat gekommen, aber doch noch sehr weit, obwohl wir gehofft haben, dieses Frühjahr bei euch zu sein. – Ich bin mit meiner lieben Schwägerin noch immer zusammen: 2 Jahre und 3 Monate haben wir das Schicksal zusammen getragen und jetzt hat uns der liebe Gott geholfen, dass wir wieder beisammen sind. Am 1. April kamen wir fort* und am 15. kamen wir hier** an. Nun, liebe Eltern brauch ich die Papiere von daheim, dann darf ich nur nach Hause kommen. 1.) Staatsbürgerurkunde, 2.) Geburtsurkunde, 3.) Heimatschein der Gemeinde, aber in rumänischer Sprache von der jetzigen Regierung. Bitte schnell. Schönen (?) Gruß an alle,
Kathi

*fort aus Russland
**in Löbau, Ostdeutschland

Übertragen aus der altdeutschen/Kurrentschrift von Astrid K. Thal, 10. März 2023
 
Katharina Hallmen, geb. Siewert
 
 
Katharina Hallmen, geb. Siewert,
 
 
als gebockelte junge Frau mit Zålmebeauch beim Gottesdienst,
zu einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war
 Det Trengäou ais de Ruide Stuwwen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Stolzenburger Russlandlied

Es war an einem Palmsonntag in der Ukraina,
es war kaum um halb Achte, die Sonn vom Himmel ging,
da kamen deutsche Frauen vom Rattenfangen her.
Ihr Antlitz war erfroren, ihre Glieder matt und schwer.
„Wohin, ihr deutschen Frauen um diese späte Zeit?“
„In eine Erdenhütte, die russisch Spatzisch* heißt.
Das Wasser ist mit Maßen. Darinnen ist kein Licht,
die Fenster ohne Scheiben**, die Türen schließen nicht.
Da steh ich selber drinnen in dieser Hütt‘ allein.
Muss heizen die zwei Öfen, für mich eine große Pein.
Da gibt’s nicht Holz noch Kohlen, da gibt’s nur Stroh und Mist.
Es ist zum Teufel holen, wie man sich hier verfrisst***.“

*Spacis: russ. Räume, geräumig, wird „S-paischis“ ausgesprochen
**Glasscheiben
***sich plagen

Übermittelt von Elisabeth Renges geb. Hallmen
 
 
 
Fern in Russland in Stalino liegt ein Lager scharf bewacht…*

Erinnerungen rund um die Deportation in Stolzenburg im Januar 1945

Seit nunmehr einem Jahr herrschen in der Ukraine Tod und Zerstörung, Entwurzelung, Vertreibung und Verschleppung von Menschen, was bei vielen unserer Landsleute der älteren Generation Erinnerungen an die Ereignisse vor 78 Jahren weckt.

Nachdem der Zweite Weltkrieg von den Stolzenburgern 107 Opfer (oder mehr) gefordert hatte, folgte im Januar 1945 die Deportation von ca. 200 Personen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, von denen 34 in den Lagern an Hunger, Kälte, Krankheiten und Erschöpfung starben. Dieses Trauma ist bis heute in den Familien präsent. Es kennt viele Gesichter und mehr Lebens- und Leidenswege als es insgesamt Deportierte gab.

Ein erster Versuch, diese prägenden Ereignisse vor dem Vergessen zu bewahren und den Opfern eine Stimme zu geben, war mein Beitrag in der SZ 1/2023 mit dem Gruppenbild der dreizehn Stolzenburger Mädchen von Ostern 1943, von denen knapp zwei Jahre später, also im Januar 1945, elf zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Darunter die  19jährige Agnetha S., die kurz darauf  im Lager verstarb.

Weitere Vorfälle und Ereignisse aus dieser Zeit wurden mir von den Nachkommen bzw. jüngeren Geschwistern der Deportierten erzählt. Vielen Dank an alle, die mir diesen traurigen Abschnitt ihrer Familiengeschichte anvertraut haben und ihn mit uns teilen wollen. Auch jeder weitere Bericht zu diesem Thema ist willkommen.

Die folgenden Schilderungen können nur einen kleinen Ausschnitt dessen wiedergeben, was die Gemeinde damals an Heimsuchung erfahren hat.

„Mein Vater war damals für den Kriegsdienst zu jung, aber alt genug für die Deportation. Er ließ sich eilig am Ohr operieren, der Chirurg war Gynäkologe. Mein Vater entging zwar so der Deportation, jedoch war er danach sein Leben lang taub auf dem „operierten“ Ohr.“
Andernorts unterzogen sich Menschen einer Blinddarmoperation, um nicht deportiert zu werden. Eine Möglichkeit für junge Frauen war, pro forma vertrauenswürdige rumänische Männer zu heiraten um mit rumänischem Namen nicht auf den „Listen“ zu landen. Einige dieser Ehen haben sogar gehalten, bis zum Tod.

Zwei junge Frauen wurden von ihren Eltern erst in einem Erdloch im Garten hinter dem  Haus vor den russischen Soldaten versteckt und als dieser Unterschlupf nicht mehr sicher war, flüchteten sie auf das Feld und kamen mit anderen Dorfbewohnern in einer Scheune unter.

„Meine Groisi hat meine damals 18-jährige Mutter im Keller versteckt und zwar hinter einer Falltür, auf der ein Schrank stand und die Leiter zum Dachboden lehnte. Sie durfte nur nachts aus ihrem Versteck herauskommen und wenn „die Luft rein war“. Ihre beste Freundin und spätere Schwägerin war zuerst mit ihr im Versteck. Deren Vater kam jedoch eines Tages - mit der Waffe der russischen Soldaten im Rücken – zu meiner Großmutter und rief: „Gëit aus Kath ǝrais! (Gebt unsere Kath heraus!)“. So musste sich die Freundin schließlich stellen. Nach meiner Mutter gefragt, meinte die Großmutter, ihre Tochter sei in Mediasch in der Schule. Sie war fest entschlossen, ihr Kind unter keinen Umständen herauszugeben. Die Russen drohten ihr dann mit Deportation und nahmen sie mit auf die Wache, entließen sie am Abend aber wieder, da sie das Höchstalter für deportierte Frauen weit überschritten hatte.“**

Wenn man die Größe unserer Gemeinde zu der Zeit bedenkt, kann man sich vorstellen, wie viele derartige dramatische Szenen und Gewissenskonflikte sich in den Häusern und Familien abgespielt haben müssen.

Nun, die Freundin, die sich gestellt hatte, ging mit den anderen nach Russland und überlebte glücklicherweise, zusammen mit ihrer Schwester. Sie wurden nach etlichen Jahren entlassen, jedoch nicht nach Hause sondern nach Deutschland bzw. Österreich geschickt. Gelegentlich wurden Heimkehrende sogar vor die Wahl gestellt und gefragt, ob sie zurück nach Rumänien oder nach Deutschland gehen möchten. Allen wurde jedoch unter Androhung von drastischen Strafen das Versprechen abgenommen, kein Wort über ihre Zeit im Lager zu verlieren.

Zwanzig Männer/Jungen sowie vierzehn Frauen/Mädchen hatten dieses Glück nicht und auch keine Wahl. Ihre Namen findet man in unserem Heimatbuch auf S. 160.

„Mein Großonkel Thomas, geb. 1923, überlebte den Krieg zusammen mit seinen drei Brüdern. Er starb trotzdem jung, da er sich nach seiner Rückkehr beim Kräftemessen mit einem Gleichaltrigen innere Verletzungen  (geplatzter Magen, Milzriss?) zuzog und kurze Zeit danach verstarb.“

„Meine Mutter war damals hochschwanger, aber die Soldaten meinten, sie hätte ein Kissen unter dem Rock. Einer von ihnen stieß ihr den Gewehrlauf gegen den Bauch. Mein Bruder Hanzi kam bald darauf zur Welt, aber etwas stimmte nicht mit ihm und er starb wenig später an den Folgen dieser Misshandlung.“

„Meine Mutter, geboren 1922, hatte Glück: Sohn Martin war im August 1944 geboren und daher musste sie nicht mit nach Russland gehen**.“

„Mein Mann war erst 17 und versteckte sich in letzter Minute auf dem Dachboden unter einem Berg schmutziger Wäsche, die dort auf das „Bechen“ („Große Wäsche“) im Frühjahr wartete. Er hatte Glück, die russische Patrouille entdeckte ihn nicht.“

Als das menschenfressende Ungeheuer sein Soll zahlenmäßig erfüllt hatte und endlich satt war, bewegten sich bei eisigen Temperaturen lange Eisenbahnzüge mit Menschen, eingepfercht in Viehwaggons, wochenlang ostwärts, Richtung Donbass, Ural und Sibirien, während zu Hause  verängstigte Menschen wieder aus ihren Verstecken heraus ans Tageslicht traten. Und das Leben musste irgendwie weitergehen.

Und die Lieben in der Heimat sind schon lange ganz allein.

Kinder haben keinen Vater und auch kein Mütterlein.* 

 „Mein Großvater Michael, Jahrgang 1900, war von 1945 bis 1947 im Arbeitslager in Russland. Anschließend wurde er ungefragt mit einem Sammeltransport nach Deutschland geschickt. Er versuchte bis 1948 nach Hause zu kommen, wurde  aber in Österreich von der Polizei zurückgewiesen und kam dann nach Estenfeld bei Würzburg, wo er bis 1956 bei einem Bauern arbeitete. Nachdem seine Familie in Stolzenburg vergeblich die Ausreise nach Deutschland beantragt hatte, gelang es ihm schließlich, 1956 nach Hause zurückzukehren. Ihm wurde von den rumänischen Behörden im Gemeindesaal vor Publikum und Fotografen der Eigentumstitel an Haus und Hof zurückgegeben.“ Übrigens, auch seine Tochter Katharina, 21, und sein Sohn Michael, 17, wurden deportiert und überlebten. Der Sohn kehrte in die Heimat zurück, die Tochter wurde nach Deutschland geschickt.

„Heimat, schönste Heimat mein, wann werden wir wieder in Siebenbürgen sein?*

„Mein Vater war 20, als er deportiert wurde. Er wurde auf dem Weg von der Schicht zum Lager auf dem Bahndamm von einem Zug erfasst und verlor ein Bein. 1948 durfte er nach Hause fahren. Meine Mutter kam auch als  20jährige 1945 ins Lager nach Dnepropetrowsk und durfte nach vier Jahren Zwangsarbeit am 14.12.1949 nach Hause fahren.“

„Mein Vater war erst im Krieg und dann in russischer Gefangenschaft. Er erzählte uns unter anderem, dass es im Lager morgens nur heißes Wasser mit zwei Stückchen Würfelzucker gab, „kipitoc“ genannt. Not und Hunger waren sehr groß und die Verantwortlichen des Roten Kreuzes schalteten sich ein und meinten zum russischen Lagerkommandanten: „Wenn ihr kein Geld für Essen ausgeben wollt, müsst ihr bald Geld für Särge ausgeben!“ Dies wurde mir im Stolzenburger Dialekt erzählt: „… dann müsst ihr Geld für Lådden (de Låd = die Lade = der Sarg) ausgeben!“ Eigentlich ein recht blauäugiges, naives Argument des Roten Kreuzes, da man aus anderen Quellen weiß, wie die Verstorbenen üblicherweise „begraben“ wurden. --

„Ich war erst sieben, als ich meinen Vater am 13. Januar 1945 zum letzten Mal sah. Er wurde deportiert, kam in ein Arbeitslager im Ural, erkrankte dort an Ruhr und starb. Das hat uns ein Reußener berichtet, der im selben Lager war.“ Im Ton ihrer Stimme schwingt auch nach 78 Jahren noch der unermessliche Schmerz mit, ohne den Vater aufgewachsen zu sein.

Und die Herzen dieser Menschen schlagen traurig, ernst und schwer, möchten gern in ihre Heimat, die Geliebten wiedersehn*

„Ich war genau ein Jahr alt, als mein Vater deportiert wurde. Davor war er beim rumänischen Heer an der Front gewesen. Nachdem sich die rumänische Armee 1944 um 180 Grad gedreht hatte und er nun als Deutscher gegen Deutsche hätte kämpfen müssen, wurde es ihm und den anderen Sachsen freigestellt, nach Hause zu gehen, was er auch tat. Allerdings nahmen die rumänischen Offiziere ihm und seinem Kameraden vorher die Uniformen weg, so dass sie in Unterwäsche den Heimweg antreten mussten. Da sie in solch einem Aufzug nicht in der Gemeinde erscheinen wollten, schickten sie, kurz vor dem Dorf angekommen, von einer Scheune auf dem Feld beim „Leockebrånnen“ eine Nachricht an ihre Familien mit der dringenden Bitte um Kleidung.

Mein Vater und mein Onkel, sein Schwager, haben auch die Deportationszeit zusammen erlebt. Sie waren beide Jahrgang 1907. Nachdem sie Seite an Seite im rumänischen Heer gekämpft hatten, wurden sie mit den anderen Landsleuten im Januar 1945 in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportiert. Sie waren all die Jahre im gleichen Arbeitslager und kehrten auch aus Russland zusammen nach Hause zurück.“ Die beiden haben sehr gut auf einander aufgepasst.
Dieses Glück hatten andere leider nicht. Wenn man die Listen aufmerksam liest, erkennt man anhand der Geburtsdaten und der identischen Hausnummern, dass in mehreren Familien Vater UND Sohn in Russland starben. Wenn man Leid und Verlust überhaupt vergleichen kann/darf: Noch schrecklicher muss es für den Vater gewesen sein, der selbst überlebte und seinen 18jährigen Sohn in Russland begraben musste.

Sollt‘ ich einst in Russland sterben, sollt‘ ich da begraben sein, so begrüßt mir meine Heimat und die Lieben all daheim.*

Meine Nachbarin erzählte vor Jahren, dass eine Frau am Ende des Dorfes in der Niedergasse vier Söhne im 2. Weltkrieg verloren hatte. Aus den Deportiertenlisten kann man anhand der Hausnummern (1 und 3) entnehmen, dass es sogar fünf Männer waren und dass aus eben derselben Familie auch drei oder vier Mädchen/Frauen mit dem gleichen Familiennamen 1945 nach Russland deportiert wurden. Wie mag es den Eltern und Großeltern dabei ergangen sein?

„Eine Schwester meines Vaters, Agnetha, war erst 17 Jahre alt**, als sie mit den anderen deportiert wurde. Sie verstarb ein Jahr später im Arbeitslager in Russland.“

„Ich war damals 12, als meine zwei Schwestern, Elisabeth knapp 21, Agnetha 19 Jahre alt und mein Bruder Hans, der im Herbst 1944 erst 16 geworden war, nach Russland deportiert wurden“. Das erzählte mir eine Frau, die sich nach 78 Jahren an alles erinnert, als ob es gestern gewesen wäre: Genaues Datum, Namen, Vornamen und Hausnummern all derer in ihrer Straße, die das gleiche Schicksal ereilte. Wie mag sich das 12jährige Kind gefühlt haben in der plötzlich so veränderten Welt? Und die Eltern? Die Großeltern? Hilflos, machtlos, verzweifelt, entwurzelt, enteignet und aus ihren Häusern vertrieben. Wie an anderer Stelle berichtet, starb Agnetha in Russland, Elisabeth und Hans wurden nach ihrer Freilassung nach Deutschland geschickt.

 „Mein Onkel Johann war noch nicht 17**, als er nach Russland deportiert wurde. Er überlebte, jedoch durfte er nachher nicht zurück nach Hause. Er wurde mit einem Sammeltransport nach Deutschland geschickt.“

Unvorstellbar, wie es in einem 16jährige Jungen, gerade in körperlicher und seelisch-geistiger Entwicklung begriffen, ausgeschaut haben muss: Allein in einer feindseligen, entbehrungsreichen Umgebung zu überleben, viel zu schnell erwachsen zu werden und dann sein Leben, fern von Familie und Freunden, im fremden, zerbombten Nachkriegsdeutschland aufbauen zu müssen. Und so erging es manch anderen jungen Männern und Frauen, die einfach nur froh waren, überlebt zu haben.

 „Meine Großtante Maria war verheiratet und hatte mehrere Kinder. Jedoch war sie noch nicht 30, demnach auch auf der „Liste“**. Also musste die junge Mutter mit den anderen 130 Frauen und Mädchen die Reise ins Ungewisse antreten. Ihre Kinder wurden von der Großmutter großgezogen.“ Das war bekanntlich in vielen anderen Familien der Fall.

Viele Kinder daheim in großer Not, keinen Vater, keine Mutter und auch kein Brot*

Und wenn keine Großeltern da waren? Eine zu Herzen gehende Geschichte hat der Stolzenburger Pfarrer Walter Seidner in seinem Buch „Auf Wolke7Bürgen“ in der Erzählung „Der niedrige Zaun“ wiedergegeben, die auf einer wahren Begebenheit aus Nordsiebenbürgen beruht: Ein Kleinkind in einem bereits von den Deutschen fast völlig evakuierten Dorf wird von rumänischen Passanten an einem Gartenzaun weinend im Schnee entdeckt. Seine Eltern sind gerade vom Fleck weg verhaftet worden. Die Leute nehmen es an Kindesstatt zu sich, bis die Eltern aus der Deportation zurückkehren.

Als sich nach einigen Jahren auch in den sowjetischen Arbeitslagern die Bedingungen für die Überlebenden etwas besserten, man nach Hause schreiben konnte oder gar Post von dort bekam und für seine Arbeit etwas Geld erhielt, um nicht mehr hungern zu müssen, war das Leben nicht mehr ganz so schwer. Es soll sogar manchmal Musik, Tanz und Geselligkeit gegeben haben, wie mir eine Stolzenburgerin vor etlichen Jahren berichtete.

Ein junger Stolzenburger hatte insgesamt zehn russische Winter überlebt: erst an der Front und anschließend in russischer Gefangenschaft. Viele Schutzengel haben ihn wohl begleitet. Und viele Gebete aus der Heimat. Nicht nur die seiner Familie. Es gab auch ein Mädchen in seiner Nachbarschaft in der Anglergasse. Sie waren einander versprochen, aber das wussten nur sie beide. Und ihr Treueversprechen war sozusagen in Stein gemeißelt: Auf einen der Mauersteine der Burgruine hatten die beiden während seines letzten Fronturlaubs einen Kreis gezeichnet. Während der junge Mann im Krieg bzw. in der Gefangenschaft war, ging das Mädchen von Zeit zu Zeit hinauf zur Burg um nach dem Kreis zu sehen, denn sie hatten vereinbart: Wenn im Kreis ein Kreuz eingezeichnet ist, dann war er zurück, dann hatte das Warten ein Ende und es konnte geheiratet werden! So kam es dann auch. Und die Ehe hat gehalten, bis dass der Tod die beiden in gesegnetem Alter geschieden hat. Seine zehn russischen Winter hat der aufgeschlossene und äußerst musikalische Stolzenburger in beeindruckender Weise schriftlich festgehalten. In der Gefangenschaft war es ihm gelungen, mit seiner natürlichen, ENTWAFFNENDEN Freundlichkeit, mit Gesang und Musizieren seine grimmigen Bewacher  milder und menschlicher zu stimmen und so den Aufenthalt im Straflager für sich und seine Mitgefangenen erträglicher zu gestalten.
 
Geheime Zeichen an der Burgmauer
Kreuz mit Kreis auf dem Stein
Foto  M.  G.

Was sonst noch bei den Deportationen und in den Lagern vorgefallen sein mag an Verzweiflungstaten hungernder und frierender Menschen oder an Gräueltaten der Peiniger an Frauen und Mädchen, können und wollen wir uns nicht vorstellen und belassen es daher dort, wo es all die Jahrzehnte sicher aufgehoben war: Auf dem Grund der verletzten Seelen. Die unschuldigen Opfer verdienen jedenfalls unser tiefstes Mitgefühl und unseren Respekt. Ihr unaussprechliches Leid, ihre Scham und ihre Angst sollen unvergessen bleiben.

Durchaus vorstellbar ist es hingegen, wenn ein ehemaliger Deportierter, der als junger Mann fünf Jahre in Russland gehungert hatte, Jahre später redensartlich zu sagen pflegte: „Eher mache ich die Türen breiter als das ich im Leben je wieder hungern werde!“

*Die schlichten, volkstümlichen Verse, die ich in meinen Beitrag eingestreut habe, entstammen einem Lied der Russland-Verschleppten. Sie haben Menschen in äußerster existentieller Not über Verlust, Trennung und Entwurzelung, Hunger und Kälte hinweggeholfen, ihnen Trost und Kraft gegeben. Daher steht uns kein Urteil über die dichterische Qualität der Reime zu. Ich habe sie dem „Gedicht über die Sachsengeschicht“ entnommen, das auf der Website der HOG Bistritz-Nösen zu finden ist.

** Die Vorschriften für die Deportation: Männer zw. 17 – 45 und Frauen zw. 18 – 30, Ausnahmen: Schwangere und Frauen, die ein Kind jünger als ein Jahr hatten. In manchen Dokumenten ist die untere Altersgrenze für Männer mit 16 Jahren angegeben.

Astrid K. Thal (11.2.2023)
 
 
 
Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion 
 
Januar 1945
 
Wenn ein Foto erzählt ...
 
Dieses Foto erhielt ich Mitte Dezember 2022 von einer gebürtigen  Stolzenburgerin und es hat mich seither nicht mehr richtig losgelassen:  Während ich das Knusperhäuschen für meine Enkeltöchter buk und  zusammenbaute oder die Honigkeks und Sterne aus Quittengelee an den Baum hing, erschienen diese dreizehn lachenden Mädchen in festlicher  Stolzenburger Sonntagstracht immer wieder vor meinem geistigen Auge.  Lachend zwar, aber nicht
unbeschwert, denn das Foto entstand an Ostern 1943.
Väter, Brüder und Freunde waren – sofern nicht gefallen oder in Gefangenschaft – an der Front. Der Fotograf hat sein Handwerk offenbar verstanden,  denn die Mädchen sind nach den Farben und Mustern ihrer ansprechenden  Trachtenkleidung nahezu perfekt symmetrisch aufgestellt, so dass das  Bild ein stimmiges, harmonisches Ganzes ergibt.
 
Jedoch ist das Besondere an diesem Foto nicht sichtbar: Elf der dreizehn  Mädchen wurden im Januar 1945 in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit  deportiert. Zehn überlebten und kamen nach etlichen Jahren zurück oder  wurden aufgrund ihres deutschen Namens nach Ostdeutschland geschickt.  Ein Mädchen (denn mit 19 ist man schließlich noch ein Teenager) musste  sein junges Leben in Russland lassen: Agnetha Seiwerth, ehem. Hs. Nr. 69, auf dem Foto 4. v. links, stehende Reihe. Die  weiteren Personen sind (ich habe mir erlaubt, zur besseren  Unterscheidung für die Leser ggf. auch die Beinamen zu erwähnen):
1945-Deportation-zur-Zwangsarbeit-in-die-Sowjetunion
Foto: Ostern 1943. Elf der Mädchen wurden im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert.
 
v. l. n. r., stehend: Katharina Renges (Tutter) verh. Schieb, Anna Staufert, Katharina Thal (Schoiner)  verh. Zöllner, Agnetha Seiwerth (Tutz, gest. in Russland, s.o.),  Elisabeth Siewert (Jona), Anna Hallmen (Witz) verh. Göllner, Katharina  Weidenfelder (Danjel äm Eick) verh. Schneider, Anna Hallmen (Ness) verh. Welther.
Sitzend: Katharina Seiwerth (Grǝnoi) verh. Fiedler, Anna Renges (Tutter), Maria  Seiwerth (Daniz), Agnetha Linder verh. Schwarz, Agnetha Seiwerth  (Grǝnoi).
 
Bei all dem, was man über die menschenunwürdigen Bedingungen in den  sowjetischen Arbeitslagern weiß, mag man sich gar nicht vorstellen, wie  es den elf Mädchen – und all den anderen Deportierten – ergangen sein  muss. Ich hoffe im Nachhinein, dass einige von ihnen in der  feindlich-fremden Umgebung zusammen bleiben konnten, um sich gegenseitig Hilfe, Trost und Stütze zu sein.
 
Die hier namentlich Genannten sollen stellvertretend für fast 120Stolzenburger Frauenund Mädchen stehen, die im Januar 1945 in russische Arbeitslager deportiert wurden. 14 von ihnen verloren im Kampf gegen Hunger, Kälte und Krankheiten ihr Leben. Ihre  Namen stehen alle in unserem Heimatbuch auf S. 160. Sie sollen nicht  vergessen werden. Wir wollen ihnen ein ehrendes Andenken bewahren.
 
Die Gruppe der männlichen Stolzenburger Deportierten setzte sich v. a. aus  sehr jungen Burschen – einige waren gerade mal 16 – und älteren Männern  zusammen. Andere wiederum waren gerade von der Front zurückgekehrt und  wurden nun noch einmal in die Fremde geschickt. Auch ihrer sei hier  gedacht. Ihr Martyrium und ihr Opfer werden unvergessen bleiben.
 
Auch als Nachgeborene erschüttert und ängstigt mich der Gedanke an diese  schreckliche Zeit, über die die Überlebenden in den meisten Fällen gar  nicht sprechen wollten/konnten. Gleichzeitig gedenke ich auch der  daheimgebliebenen Familienangehörigen, die hilflos zusehen mussten, wie  ihre Liebsten mit ungewissem Ziel und noch ungewisserem Schicksal  weggeführt wurden wie die Lämmer zur Schlachtbank. Auch dieser tapferen  Menschen, die, enteignet und aus ihren Häusern vertrieben, für die  unmündigen Kinder und Waisen zu  sorgen hatten, sei hier in Dankbarkeit  und mit gebührender Wertschätzung gedacht.
 
Da es im Heimatbuch außer der Liste der in Russland Verstorbenen keine Übersicht über die deportierten Männer gibt, ist es mein Bestreben, mit der Hilfe aller, eine solche zu  erstellen. Ich freue mich über jede konkrete Meldung mit Namen,  Vornamen, alter Hausnummer, Geburtsdatum und ggf. Rückkehr- bzw.  Todesdatum.
 
Man kann die Namen der Stolzenburger Opfer von Krieg und Vertreibung in  Michael Hihns Monographie „Die Gemeinde Stolzenburg in Siebenbürgen. Aus Urkunden, Chroniken und anderen Schriften“ nachlesen. Das Foto befindet sich übrigens auf S. 405.
Das Buch ist nach wie vor erhältlich bei Michael Theuerkauf,
Förderverein Stolzenburg e. V., Tel.-Nr. 0561-887592.
 
Für das neue Jahr 2023 wünsche ich allen Gesundheit, Gottes Segen und Frieden in Europa und der Welt.
 
Astrid K. Thal, 4. Januar 2023
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