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Kein Zankapfel Von dem aufgeweckten und neugierigen Erstklässler 1962 hab ich schon erzählt. Er wollte unbedingt sehen, wie seine Lehrerin haust („Ich möchte sehen, wie Ihr’s zu Hause habt“) und so durfte er einmal, nach dem Unterricht, auch mit der Lehrerin zu ihr nach Hause gehen und sich dort „umschauen“ģ. Am nächsten Tag hielt er seiner Lehrerin – sozusagen als Dankeschön - einen schönen dicken Apfel mit den Worten hin: „Ei, beiß na!“ und die Lehrerin entgegnete: „Ei, lass na!“ Knüppel aus dem Sack Der Pfarrer hatte es oft nicht leicht mit den Konfirmanden, v. a. den Jungen, denn es handelte sich um pubertierende 13 – 15-Jährige und so ernst wie in der Schule ging es än der Loihr (im Konfirmandenunterricht) nicht zu, weil es hier keine Noten gab. Da konnten sich diese „Lergesch und Purligaren“ (Bengel), einiges erlauben. Die Konfirmanden saßen im Sommer im Chorraum der Kirche, da war es schön kühl. Die Mädchen auf der einen und die Jungen auf der anderen Seite vor dem Chorgestühl und der Pfarrer dazwischen an einem kleinen Tischchen. Einmal musste er zu einer außergewöhnlichen Maßnahme greifen, um die Bande ruhig zu kriegen: Er nahm zwei Jungen und einen langen Stock mit in die Sakristei. Da wurde es plötzlich mucksmäuschenstill unter den anderen Konfirmanden im Kircheraum, denn aus der Sakristei kam lautes, hartes Schlagen und Wehgeschrei. Danach kamen die drei heraus, die Ruhe war wiederhergestellt und der Unterricht konnte ungestört weitergehen. Der Pfarrer hatte nämlich mit dem Stock auf eine Holzbank geschlagen, während Sigi und Tumi, nicht faul, ganz laut „vor Schmerzen“ jammerten. Härrefläcken Eine lebenserfahrene Stolzenburgerin bemerkte einmal: „Chå, chå, wuon em zǝ den Härrǝ goiht, broinģt em ǝn. Wuon dǝ Härrǝn zä aus kun, git em ǝn“. Leibgericht „Ich hått esi Duor nîă Palleocks!“ erzählte mir eine Stolzenburgerin neulich am Telefon. Ich fragte sie, wie sie den Pallukes denn am liebsten isst, heiß in kalter Milch oder mit Käse? Sie meinte: „Nå naa! Esi mät Floisch uch Wurscht ais der Brîădeschässel!“ Recht hat sie! Sie kennt viele Lieder und gesetzte Reden, wie man sie bei verschiedenen Anlässen vorzutragen hatte: Kaimes (Taufe), Mätblaiwen (Konfirmation), Brautvertrinken (Verlobung), Hochzeit, Tod, bam Haden (wörtlich: Hüten, Totenwache), de Lïech (Begräbnis) und Lïechzoichen (Leichenschmaus, in Siebenbürgen Tränenbrot genannt). Ich lobte sie, weil sie (noch) so viel weiß, da meinte sie, sie sei auch sehr froh, dass sie noch klar und nicht „verhuddelt äm Hoift“ ist wie einige ihrer Heimgenossinnen. Die Stolzenburger Spitznamen sind eine Wissenschaft für sich Hierzu werde ich noch ausführlich schreiben, aber eines halte ich schon mal fest: Es gab erlaubte und unerlaubte Spitznamen. Mit ersteren durfte man die Betreffenden ansprechen, mit letzteren besser nicht. Daher würde ich erstere eher Beinamen nennen. Als ich so 10 - 12 war, schickte mich meine Mutter mit 2,5 kg Mehl zur Rauwelmahn*, da sie angeboten hatte, für uns ein Brot mit zu backen. Das war die Familie Weidenfelder. Da es im Dorf viele Familien mit diesem Nachnamen gab, war es sehr hilfreich, dass man sich der Spitz-/Beinamen bedienen konnte, anhand derer man im Gespräch gleich wusste, welche der 20-30 Familien Weidenfelder gemeint war. War es der Rauwel oder der Tatch, der Danjel oder der Schellesch oder doch einfach der Wedgefoldjer? Übrigens, Schelles ist ein sehr alter Familienname, der heute aber als solcher nicht mehr existiert, eben nur als Spitz- oder Beiname. Also ich kam auf den Hof der Rauwels, da kam mir der Herr des Hauses schon entgegen, der Rauweloihm*. Immerhin wusste ich, dass sich die Leute offiziell Weidenfelder schreiben und dachte, Rauwel sei ein Spitzname, den man nicht verwenden darf und sagte ganz vorsichtig: Ist die Weidenfeldermahn zu Hause? Er sah mich verwundert an und entgegnete: de Wedjefoldjermahn wunnt keiniff! (die Weidelfelder-Mahn wohnt gegenüber!) Da verstand ich, dass „Rauwel“ kein Spitzname sondern ein Beiname, also ein erlaubter, war und verbesserte mich sofort: Äs de Rauwelmahn derhoim? Er lachte daraufhin verschmitzt und bat mich, einzutreten. Damals wusste ich auch nicht, was ich heute weiß: Es gab vor vielen Jahrhunderten tatsächlich eine Familie Rawel, die nach Stolzenburg einwanderte. Der Familienname starb aber aus und existiert heute eben nur noch als Beiname. Manche behaupten, der Name Rauwel käme von Raphael. Und Danjel von Daniel. Gut möglich! *Frauen wurden von allen jüngeren Gemeindemitgliedern im Dorf mit Mahn (Muhme, Tante) angesprochen und Männer mit Oihm (Oheim, Onkel). Geschlëijert Zu der Zeit lebten mein Mann und ich samt fünf Monate altem Baby Dagmar beim Vater im Stolzenburger Pfarrhaus. In der großen Küche (42 qm!) ging eine Wäscheleine quer durch den ganzen Raum. Eines späten Abends hatte ich – wie jeden Abend - die Mullwindeln gewaschen, ausgekocht und lose, also ohne Quautschker (Wäscheklammern) auf die Leine gehängt. Mein Mann musste am nächsten Morgen früh raus, um den 5-Uhr-Bus nach Hermannstadt zu erreichen. Draußen herrschte strenger Frost und so setzte er beim Rausgehen eine hellbraune spitz zulaufende Fellmütze auf. Der Rest des Hauses schlief noch. Als er am Abend wieder heimkam, knallte er mir eine weiße Mullwindel auf den Tisch mit den Worten: „Die hatte ich heute früh auf dem Kopf, als ich in der Bushaltestelle ankam.“ Er muss wohl beim Rausgehen von der Wäscheleine mit der dicken Fellmütze eine über Nacht getrocknete Windel abgestreift und mitgenommen haben. Der „Schleier“ wehte und hielt sich obenauf bis zur Bushaltestelle, wo die eben noch verschlafen auf den Bus Wartenden plötzlich hellwach wurden und nicht wenig zu lachen hatten. Wer sich seiner erbarmt hat und ihm den „Schleier“ abgenommen hat, weiß ich leider nicht! Äm Auren - Erntezeit Wenn es im Juli zum Kornschneiden ging, die ganze Familie mit anpacken musste und Schnitter und Schnitterinnen auf dem Feld schwitzten, konnte man eines der Kinder um die Mittagszeit nach Hause ins Dorf schicken mit dem Auftrag: Dea Sus, gungk hîǝmen ǝnd broing as awenig Ruhm mät Seormealtch! Ǻwer, Suseo, mîi Ruhm wai Seormealtch!“ Ihr merkt schon, es ist nicht der Stolzenburger Dialekt. Die Anekdote stammt nämlich aus Neudorf. Die erzählte mein Vater gern und schmunzelte dabei so für sich hin oder lachte als einziger über seinen „Witz“, während wir jungen und ignoranten Kinder nur gelangweilt und verständnislos die Augen verdrehten. Übrigens, ich würde den Rahm (im Sächsischen weiblich: dǝ Ruhm) der Sauermilch auch vorziehen, genau wie meine Urgroßmutter, die Staddernhonzin selig. Kugel = Bila = Ball = Poila Zu „Poila“ gibt es eine Geschichte aus bundesrepublikanischer Zeit: eine junge Mutter, aus Siebenbürgen nach Deutschland ausgewandert, ist mit ihrem Dreijährigen auf einem Spielplatz und der Kleine ruft einem anderen Kind zu: Gäw mer den Poila! Als das angesprochene Kind und seine Mutter verständnislos den Kopf schütteln, schwört sich die junge Mutter, dass sie nur noch Deutsch mit dem Jungen sprechen wird. – Wie freue ich mich, dass dieser, inzwischen ein gestandenes Mannsbild, trotzdem heute noch reinstes Stolzenburger Sächsisch spricht! Dafür können meine eigenen Kinder es leider nicht (mehr). Irgendetwas hab ich falsch gemacht. Immerhin verstehen sie es. Also „verkaufen“ kann man sie auf Sächsisch nicht. Der Pfarrer und der Burghüter… Einmal, ich war Mitte 20, stand ich im Pfarrgarten an der Mauer, die die Grenze zum „Fårreschrauhen“, dem Hohlweg zur Burg bildete, und pflückte Himbeeren. Plötzlich hörte ich eine laute Stimme vom Hof der Kirchendienerin. Der Burghüter war zu Besuch und saß mit ihr auf dem Bänkchen unterm Birnbaum. Er schien sehr aufgebracht und schimpfte. Ich verstand nur die Worte: „det Einäuglein“ und „ deser Kommunist“. Ich war empört und rief hinüber, dass er aufhören solle, so über meinen Vater zu sprechen. Das schien ihn nicht zu beeindrucken, ganz im Gegenteil, er sagte etwas von „aha, det Freila häout gehuorcht!“. Ich entgegnete, dass man bei seinem Geschrei nicht lauschen muss. Ich weiß bis heute nicht, womit ihn der Härr Fårr so erbost haben könnte. Nun, sie sind alle drei schon lange tot: der Pfarrer, der Burghüter und die Kirchendienerin. Die Stolzenburger lieben Literatur Wisst ihr, was in Stolzenburg die Frage „Häouste Literatur mätbreicht?“ bedeutete? Ohne Literatur (Alkoholisches in der Literflasche) konnte man sich nämlich auf keiner richtigen Party, in Stolzenburg entweder „Chef“ oder åf gat Såksesch „Ånģjerhauldung“ (Unterhaltung) genannt, blicken lassen. Ein Koffer voller Briefe Wisst ihr eigentlich, was ein Pfarrer früher den ganzen Tag machte? Denn predigen musste er ja nur am Sonntag, wie wir alle wissen Bei solch einer „stattlichen“ Gemeinde fiel außer den umfangreichen Sekretariatsarbeiten - er hatte keine Sekretärin wie der Großauer Pfarrer - auch viel „fachfremde“ Korrespondenz an. Ich fand in seinem Nachlass einen alten Koffer voller Briefe, sauber nach Jahren sortiert und mit einem „Litzel“ zu Bündeln zusammengeschnürt. Briefe vor allem aus den 50er, 60er und 70er Jahren. Was war da nicht alles dabei: Anfragen von Ärzten, Anwälten, Diplomaten aus Bukarest und Klausenburg, die ein Kindermädchen oder eine Haushälterin suchten. Pfarrerkollegen, die Auskünfte über abgewanderte Personen der Gemeinde wünschten, ein pensionierter Pfarrer, der sein Ornat veräußern wollte, jemand, der Bockelnadeln kaufen wollte. Anfragen und Berichte des Leiters der Organistenschule in Baaßen. Nun, diese Korrespondenz war mitnichten fachfremd, denn es ging um den Organistennachwuchs. Dann war da noch Post von Deutschen und andere Touristen aus aller Welt, die in Stolzenburg Halt gemacht hatten und nachher in ihren Briefen dafür dankten, dass der Pfarrer sie in Kirche und auf der Burg herumgeführt und ihnen Einblicke in die Kultur und Geschichte von Siebenbürgen gewährt hatte. Manchmal kamen ganze Busse mit Touristen. Bei einer dieser Gelegenheiten drückte ihm eine dankbare Touristin sogar eine Mark in die Hand, sozusagen als Trinkgeld, in Siebenbürgen „Tschubuk“ oder „Bakschisch“ (Türkisch lässt grüßen) genannt. Nun, wer den Pfennig nicht ehrt… Besonders begeistert waren die Urlauber mit ihren schönen Westautos, wenn sie einem Sonntagsgottesdienst beiwohnen und die Stolzenburger Tracht bewundern konnten. Viele von ihnen staunten auch darüber, im Gottesdienst und bei Begegnungen auf der Straße auf reinst gesprochenes Schriftdeutsch zu treffen. Sie revanchierten sich für das Erlebte, indem sie die in Stolzenburg geschossenen Fotos später an den Pfarrer schickten mit der Bitte, sie den Betreffenden auszuhändigen, was der Pfarrer gern erledigte. Dutzende Briefe von deutschen Touristen aus Ost und West, aus Europa und Amerika habe ich gelesen, die sich ausgesprochen herzlich an die Begegnungen in Stolzenburg erinnerten. Auch ausgewanderte oder durch den Krieg in Deutschland verbliebene Stolzenburger baten des Öfteren den Pfarrer um schriftliche Auskünfte über ihre Verwandten, etwa wegen Erbschafts- oder Lastenausgleichsangelegenheiten oder weil sie Bestätigungen zu Tauf- und Heiratsdaten aus dem Pfarramt benötigten. Ein nach Österreich ausgewanderter 77jähriger Stolzenburger, ein Veteran des 1. Weltkrieges, schreibt, dass nur die schöne Stadt Wien und seine beiden fürsorglichen Söhne sein Heimweh etwas erträglicher machen konnten. Was mir bei diesem Brief aber besonders aufgefallen ist, war die äußerst ebenmäßige, mustergültige Handschrift. Etwas ähnlich Schönes habe ich vorher und nachher nicht gesehen. In einem anderen Schreiben holt ein Arzt aus Westdeutschland Erkundigungen über die Familie eines ausgewanderten Stolzenburgers ein, der seine große Familie baldmöglichst nachholen möchte. Ganz besonders beeindruckt hat mich ein Brief von 1959: es ist ein zweiseitiges Schreiben einer zu ihrer Tochter nach Peru ausgewanderten Stolzenburgerin: „… Heute ist erster Ostertag. Ich war allein, aber im Geist war ich drüben an meinem Platz in der Kirche und bei der Begleitung („Oisterbegloit“) auf dem Pfarrhof. Alle Osterlieder und das Osterevangelium habe ich gelesen und habe mich satt geweint über die große Gnade, die der liebe Gott den Menschen hat zuteilwerden lassen…“. Und das schreibt sie ein paar Jahre, nachdem der Krieg und die Zwangsverschleppung Familien zerstört, auseinandergerissen und in alle Welt verstreut hatten. Wie viel Demut und Gottvertrauen! Unter anderem fragt sie nach der neuen Gasheizung im Heimatdorf und nach der Familie des Pfarrers. Auch bedauert sie, dass er seinen Bruder im Krieg verloren hat. Nach ihrer zweiten Tochter Lisi erkundigt sie sich auch, die noch in Siebenbürgen, aber nicht mehr in Stolzenburg lebt, da sie dort angeblich kein Zuhause mehr habe. Besonders interessant finde ich, wie Agnetha S. vom Leben auf der Farm ihrer Tochter in Peru erzählt, wo Kaffee, Kakao und Reis angebaut und geerntet, Rinder und Hühner gezüchtet werden: „…Wir haben 150 kg Kaffee geerntet, fertig getrocknet. Er wird so lange in der Sonne getrocknet, bis man die Bohne nicht mehr zerbeissen kann. …“ Und: „… In nächster Zeit ist der Reis reif, der wird geschnitten wie bei uns zu Hause das Korn und auf einer Maschine geschält. Auch ein großes Feld mit Mais haben wir zum Abnehmen. Wir haben viele Hühner, davon wir jede Woche eines schlachten, manchmal auch zwei, wenn’s kein Rindfleisch gibt. Mariechen kocht sehr gut. Und dann jeden Tag am Nachmittag den guten Kaffee. Am Abend Tee mit Zitrone und Konservenfleisch und gekochte Eier. Einen Eisschrank haben wir auch, damit uns nichts verdirbt.“ Ich erfahre weiter: Ihre jüngere Enkeltochter geht in Lima in die deutsche Schule während die ältere Kindermädchen in New York ist und dort einen Amerikaner heiraten soll. Zum Schluss sendet sie Grüße in die Heimat und eine Bemerkung am seitlichen Rand des Briefbogens: „Eine schöne Predigt von Ihnen würde mir wohl tun“, was mich für meinen Vater als Seelsorger besonders gefreut hat. Echte Empfindungen, wahrhafte Gedanken, schlicht und ehrlich ausgedrückt! Bestätigung und Anerkennung vom anderen Ende der Welt. Eine Stolzenburgerin beim Kaffee-Ernten und Reis anbauen in Südamerika. 1959. Unglaublich. Ich hüte diesen Brief wie einen Schatz, obwohl ich diese Frau nie gekannt habe. Astrid K. Thal, 18. März 2023