„Neu erzählt“

Neues aus Stolzenburg und von den Stolzenburgern?

Hier veröffentlichen wir gerne auch Ihren Beitrag
rund um Stolzenburg und seine “Gestalten”.

Winterlied

Was vom Gedicht von Schuster Dutz in Stolzenburg hängenblieb:

Et schnaut, et schnaut, et råmpeln dǝ Fläǝken,

dǝ Näǝs wit ruit uch blîǝ dǝ Huontch,

dǝ Glätschaisen hein gericht um Hîǝken.

Zǝm Nîǝber wit dǝt Schwiëng gesuontch*.

Nä kut ihr Zinnebäckeltcher** ǝrun, kut ǝrun!

Doi wit ǝn Hoibesstäck bekun,

doi mir det Loid weall sånyen.

(übermittelt von Elisabeth Renges, geb. Hallmen)

*= gesengt
** wörtlich: Zinnböcklein

In der deutschen Fassung des vierstrophigen Gedichts von Schuster Dutz (1885-1968)
„Et schnoat, et schnoat“ sind die „Zinnebäckeltcher“ eine Anspielung auf die Mär von den Sieben Zicklein. In einem Gedicht von Viktor Kästner wird das Zinnebäckelchen (hier ohne t) mit Ziegenböcklein übersetzt. Im Stolzenburger Dialekt soll es sich dabei außerdem um die bei einem Feuer im Freien umher fliegenden verglühten Funken handeln. Diese Bedeutung wird im vorliegenden Text durch eine zweite, bezaubernde ergänzt, da mit „Zinnebäckeltcher“ offenbar auch die Kinder gemeint sind, denen Hiebes (Gebäck aus Hefeteig und Grieben) angeboten wird.

Sofern die vorliegende gekürzte Fassung in anderen sächsischen Dörfern nicht bekannt war, hat der Stolzenburger Volksmund also – getreu dem Motto: In der Kürze liegt die Würze – aus den vier Strophen des Originals von Schuster Dutz jeweils ein Element, einen Vers „herausgepickt“ und damit einen niedlichen Kinderreim geschaffen.

1. Schweineschlachten

2. Pfarrgarten im Winter

3. Garten im Winterfrieden (Weidenfelder-Schelles)

4. Hof im Winterschlaf (dito)

Astrid K. Thal, 29. Januar 2023

Ein Spaziergang. Vergleiche

Das kleine Dorf in Unterfranken ist nun seit 32 Jahren unsere „neue“ Heimat. Welch ein Glück: Mit solch freundlichen Nachbarn haben wir uns hier nie als Fremdkörper gefühlt. Es ist so wichtig im Leben, Menschen zu begegnen, die dir wohlgesinnt sind und dir nichts Böses wollen, denn nicht erst seit Friedrich Schiller – und in der heutigen unruhigen Zeit umso mehr – weiß man: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Und doch – wie könnte es anders sein: An vielen Ecken drängt sich einem der Vergleich mit der alten, der echten, der einzigen Heimat auf. So undankbar sind wir Menschen: Das Gedächtnis und die Erinnerung halten uns stets fest im Griff. Oder anders rum gesagt: Niemand lebt von der Gegenwart allein (R. Wagner, Habseligkeiten)

Ich gehe durch die Straßen dieses überschaubaren Ortes: Kein einziger Mensch ist zu sehen, der etwa vor dem Haus mit seinem Nachbarn über das Wetter „proipelt“ (entspricht exakt dem Neudeutschen „chatten“). Nur eine schwarze Katze quert gemächlich die Straße.

11 Uhr, Angelusläuten: Kannte ich nicht, war mir neu, hab‘s inzwischen liebgewonnen.

Der hohe, schlanke Kirchturm mit einer Uhr, die den Tag in viele Viertelstunden zerteilt, gehört zu einem recht jungen Gotteshaus, wenn man es mit unserem 500 Jahre alten „derhoim“ vergleicht, das wiederum gar keinen Turm hat, nur einen kleinen Dachreiter mit Glöckchen. Ob dieser einfache Baustil von Anfang an so gewollt war oder der Not, sprich den vielen Raubüberfällen und Plünderungen durch Tataren, Türken und Kurutzen geschuldet war? Die mächtigen Glocken waren nämlich oben im Dicken Turm der Burg untergebracht und läuteten nur dreimal am Tag, um 6, um 12 Uhr und je nach Jahreszeit um 18 oder um 20 Uhr („Betglocke“).

Der Friedhof hier ist sehr gepflegt und hat ein großes Sandsteinkreuz, eine überlebensgroße Marien- und eine Christusstatue aus Marmor sowie einen kleinen Aufbahrungsraum mit ausladendem Vordach für Schlechtwetter. Dieser Friedhof liegt aber nicht an der Sonnseite wie der, den ich im Kopf habe. Tatsächlich liegt das ganze Dorf auf der Äĕfsetch (Abseite, Nordhang). Die alten Kiefern und Tannen auf der Anhöhe über der kleinen Ortschaft erinnern mich irgendwie an einen Luftkurort.

Ich komme an einem Haus mit der Aufschrift Lorenz F. vorbei. Den Vornamen kenne ich doch von irgendwoher!? Er war auch in Stolzenburg verbreitet, wenn auch nicht so häufig wie Michael, Martin oder Johann.

Ein anderes Haus liegt ganz versteckt hoch oben am Waldesrand und kann von keiner Seite eingesehen werden, höchstens von der Landstraße, und auch das nur im Winter, wenn die Bäume kein Laub tragen. Es gehörte dem aus Siebenbürgen stammenden Arzt, der vor 77 Jahren als junger Mann hier sein Glück und eine neue Heimat fand. Nun steht es leer und verlassen da und wird bald neue Eigentümer bekommen.

Viele sehr gepflegte und dann wieder regelrecht vergessene Gärten wuchern und träumen vor sich hin. Sie erinnern mich an den Pfarrgarten in Stolzenburg. Die herrlichen Herbstäpfel, Pflaumen und Birnen unter den Bäumen verfaulen, weil sie vor lauter Wohlstand niemand braucht oder weil das Obst aus Argentinien dem verwöhnten globalisierten Gaumen besser mundet? Das gleiche Schicksal blüht leider auch den wertvollen, gesunden Walnüssen.

Es fällt mir ein, dass der Stolzenburger Pfarrgarten bis ca. 1981 zweimal im Sommer gemäht und einmal im Frühjahr, vor dem Palmsonntag, von den Konfirmanden gerecht und so vom Herbstlaub des Vorjahres befreit wurde. Die vielen Hände bewältigten den großen Garten in nicht mehr als zwei Stunden, wobei immer auch noch Zeit für Schabernack und dumme Streiche übrigblieb. Denn was macht vierzehnjährigen Jungen mehr Spaß als Mädchen zu necken oder zu erschrecken?

Ich gehe einen steilen Hang hinauf zu einer Hochebene, den sogenannten Kriegsgräbern, eine hügelige Wiese mit seltsamen Vertiefungen: ehemalige Einschlagkrater oder Schutzgräben? Zwischen knorrigen Kiefern blühen hier im Frühjahr – sinnigerweise – Himmelsschlüssel. Wie praktisch für die Gefallenen des Krieges von 1866, die Schlüssel zum Himmel frei Haus geliefert bekommen zu haben.

Am Spätnachmittag wähle ich einen anderen Weg Richtung Sonnenuntergang. So komme ich an einem eingezäunten Fischteich mit Enten, Gänsen und Pfauen vorbei. Wenn letztere schreien, bin ich plötzlich ein Schulkind auf Klassenfahrt in Hermannstadt und wir laufen im Jungen Wald zum Tiergarten, wo uns von Weitem die schrillen Schreie der Pfauen empfangen. Gerade habe ich gelesen, dass der kleine Zoo in Hermannstadt bereits im Jahr 1929 angelegt wurde und damit der älteste in ganz Rumänien war.

Die unverwechselbaren Schreie dieser Vögel werden leiser und ich biege links ab und trete in den Wald ein wie in eine stille Halle, eine Kathedrale. Hier wachsen Maiglöckchen und ihr Duft erinnert mich auch nach 60 Jahren an die Muttertage meiner Kinderzeit: Maiglöckchen, Tränendes Herz und Flieder (Loirbern). Aber was kann ein Kind mit einem noch so schönen Blumenstrauß gegen den Streit der Erwachsenen ausrichten? Kein Wunder, dass im Blumenduft – heute noch – eine bitter-traurige Note mitschwingt.

Zurück zum Hier und Jetzt: An unserem Zuhause angekommen höre ich Stimmen und Lachen aus unserem vergleichbar kleinen Garten und stelle fest: Doch, auch hier finden gute Gespräche mit den Nachbarn durch den grünen Gartenzaun, den „Båddemzeong“, statt.

Lindenblüten, frisch gemähtes Gras oder Schnittlauch duften hier nicht anders als anderswo. Und wenn ich Kerbel pflücke, dieses zarte, unscheinbare Kraut, muss ich jedes Mal an meine traurige, unglückliche Großmutter denken, weil sie es mit mir an jedem Gründonnerstag für die Kerbelsuppe pflückte.

Auch der Kuhstall des Bauernhofes, wo wir in den ersten Jahren als „Zu-g’roaste“ unsere Milch holten, wahrscheinlich mehr aus Nostalgiegründen, verströmt den gleichen stickigen Geruch wie daheim.
Einen Unterschied gibt es allerdings: Während daheim der Misthaufen im Hof hinter dem Haus seinen Platz hatte, empfängt er einen hier meist gleich vorne neben der Toreinfahrt. Wahrscheinlich weil der Dünger so am einfachsten abtransportiert werden kann. Eine andere Erklärung habe ich nicht.

Die freundliche Familie F. hat ihre Kühe inzwischen längst verkauft. Er, neunzigjährig, pflückt, auf einer hohen Leiter stehend, rote Äpfel und wundert sich, woher ich denn die Sorte kenne. Jonathan-Äpfel. Dabei fällt mir ein, dass im Stolzenburger Garten neben Stettinern, Batull, Poinic und den Blauen Äpfeln mit ihrem milden Geschmack mindestens drei Jonathan-Apfelbäume standen. Aber das sage ich dem alten Mann nicht, er würde es mir eh nicht glauben. Genauso wie man mich ungläubig anschaut, wenn ich erzähle, dass wir im Stolzenburger Pfarrhaus drei Kachelöfen hatten. –

Meine Spaziergänge führen mich manchmal an einem Haus vorbei, in dem Honig verkauft wird und Bienenwachs. Auch dazu gibt es eine Parallele: ich bewahre nämlich ein Stück Wachs auf, das noch aus der Hobby-Imkerei meines Vaters von vor 41 Jahren stammt. Damit bestreiche ich in der Adventszeit das heiße Backblech für die Honigplätzchen. Dann kleben sie nicht an. Auch wenn Backpapier die Lösung wäre, benutze ich bei Honiggebäck weiterhin das Bienenwachs. Der Klumpen wird mich trotzdem überdauern, wahrscheinlich irgendwann weggeworfen.

Das gleiche Schicksal droht, da unkaputtbar und scheinbar für die Ewigkeit gemacht, den alten, von fleißigen Stolzenburgerinnen auf dem eigenen Webstuhl gewebten Handtüchern sowie den Tischtüchern mit den Initialen meiner beiden Großmüt
ter. Solange ich lebe, halte ich sie alle in Ehren, indem ich sie ständig – aber achtsam – im Gebrauch habe.
Am Kindergarten – eine Schule gibt es hier in unserem kleinen Ort seit langem keine mehr – komme ich heute auch vorbei und höre laute Kinderstimmen. Im Geiste stehe ich plötzlich am Fenster des Pfarrhauses in Stolzenburg und vernehme den Pausenlärm im Hof der Staatsschule schräg gegenüber, ganz nahe. Es ist ja nur ein Katzensprung durch den Garten und über den Bach… Stünde ich jedoch an einem der Fenster, die nach Westen, zur Kirche hin gehen, würde ich ebenso nah die Schüler im Pausenhof der anderen, der alten deutschen Schule hören können. Seltsam, Kinderstimmen klingen überall, in allen Sprachen, zu allen Zeiten gleich.

Ob heute im Kindergarten auch „Steinchen will verstecken“, „Der Fuchs geht herum“ und „ Zum Tor hinaus…“ gespielt und „Wulle, wulle Gänschen… wisst ihr Kinder, wer ich bin?“ gesungen wird?

Während die siebenbürgischen Jungen in einer Ecke des Schulhofes, wo sie keiner sah, „än`t Grieppchen“ (mit Münzen in ein Grübchen/Loch zielen) spielten, war es hier wohl das Murmelspiel. Ein ähnliches gab es daheim auch, das hieß „Zickes“, aber mit Münzen, denn Murmeln hatten wir keine. Früher. Heute daddeln alle am Handy.

Außer Para, Völkerball und Seilspringen, die allesamt ganze Sommertage ausfüllen konnten, fällt mir plötzlich, wie aus dem Nichts, ein weiteres, ganz vergessenes „Spiel“ ein: ein Taschen- oder kleines Küchenmesser (spätz Meisserchen) wird im Garten in den feuchten festgetretenen Erdboden geworfen, so dass es stecken bleibt und man in einem vorher abgegrenzten Rahmen „Gebiete erobern“ konnte. Ich wundere mich, dass meine Eltern uns Kindern (im Sommer meist barfuß unterwegs!) erlaubten, mit solchen Gegenständen zu hantieren. Dass es nie Verletzungen gegeben hat, grenzt an ein Wunder. Oder das wiederholte Wettklettern auf den schiefgewachsenen Kirschbaum bis hoch in die Spitze? Wussten die Eltern davon? Dazu fällt mir der Satz ein: Das Beste, was Kindern passieren kann, ist ein gesundes Maß an Vernachlässigung. Ich weiß nicht mehr, wer das behauptet hat, aber etwas ist dran.

Ich komme auch am Neubaugebiet vorbei und auf einem Grundstück stehen, zwischen Baumaterial, Holzpaletten und anderem Kram drei gute Fahrräder im Regen, im Schnee. Eines davon ist ein rotes Dreiviertelfahrrad. Und schon wieder schlägt die Erinnerung zu: Was hätte ich als 9-Jährige dafür gegeben, ein solches zu besitzen?

Zurück zum Kindergarten: Trotz sozialistischer Mangelwirtschaft erhielten die Ganztageskinder in den zwei Stolzenburger Kindergärten, insgesamt sicher mehr als 100 Kinder, kostenlos vormittags ein Jausenbrot, ein warmes Mittagessen, von Frauen aus dem Dorf liebevoll zubereitet, und am Nachmittag ein Vesperbrot oder ein Stück Kuchen. Ich war leider nur „Halbtagskind“, musste also zu Mittag nach Hause gehen, trotzdem es so verlockend aus der Gemeindeküche duftete.

Auf meinem Spaziergang durchs Dorf stelle ich fest: Hier werden Fahnen aus Überzeugung vor dem Haus gehisst. Drüben, bei uns zuhause mussten sie am Nationalfeiertag auf behördliche Anordnung zum Dachfenster hinausgehängt werden. Nur nicht aus der Reihe tanzen. Farbe bekennen. Rot, gelb, blau: das sind die Farben unserer schönen Republik… Dafür brauchten wir nie Angst vor Zecken zu haben, wenn wir im Gras den Burgberg hinunter rollten. Auch nicht vor dem Fuchsbandwurm beim Walderdbeerensammeln. Ist auch was wert. Oder hatten wir einfach nur Glück?

Allerdings, das Wasser schmeckt hier anders. Genau genommen schmeckte es auch daheim aus jedem Brunnen anders. Und fast jedes Haus hatte seinen eigenen Brunnen. Nur in einzelnen Fällen wurde er durch den Zaun mit dem Nachbarhof geteilt. Ebenso hatte jedes Haus seinen eigenen gemauerten Backofen (Båckes), der für mindestens 10 Brote und ein paar Hanklichen ausgelegt war. Das war hier früher anders: Es gab eine gemeinsame Backstube, wo man seinen Teig hinbrachte. Auch bot so ein Dorfbackofen Anlass für Klatsch und Tratsch mit den Nachbarinnen.
Nun, das Vergleichen begann nicht erst nach unserer Auswanderung, es war schon daheim in unseren Köpfen, wenn wir Kinder in den 60er Jahren auf der Straße den vorbeifahrenden Autos mit deutschem Kennzeichen zuwinkten. Auch stellten wir fest: Das Benzin, die Auspuffgase der deutschen Autos rochen besser als der einheimische Kraftstoff – nein: sie dufteten! Ganz zu schweigen von Kaugummi, Schokolade, Seifen und Deos! Weitere begehrte Artikel aus dem Westen waren Jeans, Wind-/Regenmäntel (rumänisch Fîş genannt), hauchdünne Damenschals in allen erdenklichen Farben, Knirpse (Regenschirme in Kleinformat), Füller, Magnetophone (Tonbandgeräte), Bücher und Spielzeug. Allesamt qualitativ besser, schöner und attraktiver als das sozialistisch-graue Einerlei.

Als Bestechung(sgeschenk) bei Ämtern und in Krankenhäusern eigneten sich am besten Zigaretten und Kaffee, auch feine Damenstrumpfhosen für die Gemahlin des Chefarztes waren gefragt. Glückspilz jedoch war, wer gleich ein ganzes Auto von den Verwandten aus dem Westen geschenkt bekam. Gebraucht, versteht sich.

Was das Fernsehen anbelangt, gab es früher daheim nur ein einziges Programm, sofern man überhaupt ein Gerät hatte. Hatte man keines, ging man zum Nachbarn Titi oder zur Staatsfarm, aber davon habe ich ja in einem meiner ersten Beiträge erzählt. Heutzutage gibt es Dutzende von Programmen von umstrittener oder Null Qualität. Meine gute alte Freundin selig sah sich nur die Filme mit Peter Alexander, Heinz Rühmann, Hans Moser und Liselotte Pulver an. Die gute alte Zeit halt. Über die heutige pflegte die alte Stolzenburgerin zu sagen: „Die Leute heutzutage wollen immer verreisen. Sie zittern und fiebern buchstäblich dem Urlaub entgegen. Und im Fernsehen dreht sich alles um drei Dinge: Feiern, Fressen und Schmutz.“ Was mit Letzterem gemeint war, kann man sich denken. Wie recht sie doch hatte, meine Freundin.

Die Behauptung, man trage seine Heimat ein Leben lang im Sinn, ist irgendwie wahr: Jedenfalls ist der Vergleich immer präsent. Mal punktet die neue, mal die alte. So ist das nun mal. Keine Kritik in keine Richtung. Nur persönliche Beobachtungen und Feststellungen. Und viel Dankbarkeit. Für das Hier und das Dort. Für das Heute und das Gestern. Und viel Hoffnung für morgen.

Ich wünsche allen Stolzenburgern und Stolzenburg-Verbundenen gesegnete Feiertage und

ein friedvolles, gesundes 2023.

A.K. Thal (im Dezember 2022)

Vorfreude

In zwei Wochen werden wir in Stolzenburg unsere Heimat feiern.

Ich hörte mal den Satz: Ein Galicier trägt seine Heimat im Herzen. Ich auch!

Es ist der Ort, wo die Seele aufgeht und der Geist sich entfaltet.

Es ist der Ort, wo wir unseren Vorfahren nahe sind.

Es ist der Ort, wo hinter jeder Ecke die Erinnerung lauert.

Oder, um mit Joh. Gottfried Herder, Dichter und Philosoph aus Königsberg, zu sprechen: Heimat ist der
Ort, wo man sich nicht erklären muss.

Starke Dorfgemeinschaften gibt es überall in der Welt, sei es in Peru, in Südtirol, in Irland oder im
vorwiegend dänischen Nordschleswig und ich kann nicht umhin, mit einem gewissen Neid auf diese zu
blicken, denn die Stolzenburger sächsische Dorfgemeinschaft ist leider Geschichte.

Und doch kann ich mich glücklich schätzen, dass es den Ort meiner Kindheit noch gibt, wohin ich jederzeit zurückkehren kann zum Unterschied vom Dorf des „Bauern Körbl“, nach dem ein Dokumentarfilm benannt
wurde: Ein junger Mann wird mit dem ganzen Dorf Ende des 2. Weltkriegs aus Böhmen/Tschechien
vertrieben und lässt sich in einem Ort in Württemberg nieder, wo er heiratet und eine Familie gründet.
Aber – trotz Fleiß und Tüchtigkeit – bleibt er in den Augen der Dorfbewohner zeitlebens ein Flüchtling und
ein Habenichts, weil er einst nur mit einem Koffer in diesem Dorf ankam. Nach 45 Jahren fährt er mit seinen
drei Kindern nach Tschechien, um ihnen den elterlichen Bauernhof zu zeigen. Aber er findet nichts außer
Wildnis und Gestrüpp und die Bodenplatte des ehemaligen Stalles vor. Das ganze Dorf war nämlich bis auf
die Kirche aus Rache an den deutschen Besatzern dem Erdboden gleich gemacht worden.

Wie schön, dass wir in Stolzenburg etwas mehr als ein paar Betonplatten, Dornen und Gehitsch* vorfinden
werden. Ich freue mich.

*trockenes Gehölz, Gestrüpp

Strom der Erinnerungen, Strom der Gedanken

Es ist Hochsommer und ich sitze auf der Terrasse und putze täglich Stachelbeeren, Johannisbeeren oder
entkerne Kirschen. Und die Gedanken wandern und Bilder ziehen vorüber. Wie habe ich diese Arbeit als
11-Jährige gehasst! Geschadet hat sie mir zwar nicht, aber überfordert war ich mit dem großen Weidling
voller Obst zum Putzen und Weiterverarbeiten. Die Brüder waren von dieser Arbeit befreit und ärgerten
mich auch noch, indem sie mit Stachelbeeren warfen und freuten sich, wenn ich schimpfte. „Hysterisch“
nannten sie mich dann. Damals habe ich dieses Wort zum ersten Mal gehört.

Und jetzt finde ich diese Beschäftigungen richtig entspannend. Wenn ich welchen hätte, würde ich auch
Kukrus schoin mäouchen (Blätter von reifen Maiskolben entfernen), Kukrus äoumäouchen (die Maiskörner
vom Strunk abrebeln) oder Fusoien piëddern (Bohnen aus den getrockneten Schoten herausschälen)! Weil
man dabei so gut nachdenken kann.

Und Fotos helfen zusätzlich dabei. An meinem 10. Geburtstag waren die großen und die kleinen
Freundinnen zum Feiern in unserem Garten. Dort gab es Wundertorte und Fruchtsaft am Holztisch unter den riesigen Thuja-Bäumen.

Die großen Mädchen waren nicht immer erfreut, wenn ich sie fast täglich aufsuchte, denn ich konnte eine Nervensäge sein mit meinen vielen Fragen, über die sie oft lachen mussten, z. B.: Wieso ist das eine Kramchen rot am Popo (ruit um Äorsch)? So etwas weiß man halt, wenn man auf dem Bauernhof lebt. Von wo sollte ich 6-Jährige wissen, dass das Schwein „brimmig“ war?

Marie und Beate waren vier Jahre älter als ich und ein Gespann, zwischen das kein Blatt passte. Und das ist heute noch so! Einmal gab es Streit und wir sahen uns eine Zeitlang nicht mehr. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit „verkamen“ wir uns und spielten wieder zusammen.

Oft bettelte ich Marie an, mir doch zwei Zöpfe zu flechten, denn meine Mutter machte mir immer nur einen und den dann auch noch zu einem Kontch (Kranz) hochgetürmt. Interessant war auch, als Beate uns ihren frisch operierten Blinddarm zeigte, also die Narbe davon. Seither weiß ich, dass er rechts liegt, der Blinddarm.

Oft lachten sie mich aus, wenn ich den Stolzenburger Dialekt nicht so perfekt beherrschte wie sie: Wer konnte auch schon wissen, dass es einen Unterschied zwischen „Goiß“* und „Guois“** gab? Oder dass zu Hause Kråppen (Krapfen) gebacken wurden, diese aber bei der Nachbarin Feongkich hießen?

Auch zeigten mir die Freundinnen, wie man feststellt, ob man ein Levken hat: man nehme Spitzwegerich-Blätter und reiße sie zu zweit, jede an einem Ende des Blattes ziehend, auseinander: wer den längsten Faden erhält, hat auch ein Levken (Liebchen).

Wenn die Nachbarsmutter mir etwas zu Essen anbot, sagte ich erst schüchtern „Nein“, bereute es dann aber und fragte: „Was habt ihr grad vorhin zu mir gesagt? Sagt das noch mal!“

Einmal klopfte eine Nachbarin bei Marie ans Gassentürchen, denn dieses war zägeschubbert***. Als wir es öffneten, wollte die Frau aber nicht hereinkommen, weil das – ihr und uns – Unglück bringen würde. Sie hatte ein herzförmiges Holzbrettchen, das „Zoichen“, in der Hand und teilte mit, der H.-Oihm sei gestorben, (er „hatte sich bezahlt“) und dass „iwwermorren“ åm Zwei dĕ Liëch (das Begräbnis) sei. Das „Zoichen“ musste nun umgehend zum nächsten Nachbarn getragen und auf keinen Fall irgendwo abgelegt werden, sonst brächte dies noch mehr Unglück. Der Hintergrund dieses Aberglaubens war jedoch die Notwendigkeit, die Information schnellstmöglich weiterzutragen, so dass innerhalb von einer Stunde das ganze Dorf in Kenntnis gesetzt wurde. Das war möglich, weil es in der Gemeinde vier Nachbarschaften gab, in denen je ein „Zeichen“ unterwegs war und von Haus zu Haus wie bei einem Staffellauf weitergegeben wurde.

Denn wie leicht könnte das Weitergeben der wichtigen Nachricht durch ein vermeintlich nur kurzes Ablegen des hübsch als Kleeblatt oder Herz geschnitzten Holzbrettchens vergessen werden bei den vielen Aufgaben, die ein Bauer, eine Bäuerin in Haus und Hof, im Garten und auf dem Feld zu erledigen hatte: Angefangen vom Getter „gewinnen“ am frühen Morgen um Fünf, d. h. Kühe aus dem Stall raus- und auf die Straße lassen, damit sie sich an die vorbeiziehende Herde anschließen, bis hin zum Abend, wenn selbige heimkommen, gesäubert und gemolken werden müssen…

Einmal musste eine Kuh notgeschlachtet werden, weil sie in den Kampest (Kohlfeld) geraten war und sich daran vollgefressen und einen Blähbauch bekommen hatte. Wenn einen so ein Unglück betraf, kam es schon mal vor, dass man auf das Schicksal fluchen musste, aber dies tat man nie auf Sächsisch. Geflucht wurde nur in rumänischer Sprache. Auf Sächsisch sagte man höchstens mal: ta eländ Zadder, det Viërbes, de Flärz, det Schämpes, Schkabänz, Schnäffelz, der Bitchär, ta Mel-oofen, Jigodgiĕ, Proasta, Putoare, Păhuiă, Pustăhală. Letztere sind allerdings auch dem Rumänischen entliehen.

Meine Freundinnen kannten ein Rätsel: Woi liëtch, wuon der Burghader krĕnk äs? Man gab die falsche Antwort, wenn man nicht wusste, dass das Wort „liëtch“ zwei Bedeutungen hatte: „leiden“ und „läuten“.
Die kleinste in unserer Mädchenbande war mal von einem der Erwachsenen gefragt worden: Welches Zuckerchen (Bonbon) willst du? Ein grünes oder ein rotes? Die Kleine antwortete schlagfertig: ein großes!
Auch sonst war sie nicht mundfaul: Als sie auf der Straße einen Mann sah, sagte sie ihm direkt ins Gesicht: Oihm, ei, Ihr hut jo nichen Hauls!

Eine andere Vierjährige, 15 Jahre später, stellte enttäuscht fest: „De Hochzet wäll net än de Kirch!“ Es zogen nämlich am 1. Mai die Bandisten (waren es die Adjuvanten oder die Schrammel?) die Straße hinunter und spielten u. a. auch Märsche, die sonst bei Hochzeiten zum Vortrag kamen. Bei solcher Gelegenheit lag die Kleine mit ihrer neugierigen Mutter im Fenster und beobachtete den Hochzeitszug und natürlich das highlight: die Braut!
Aber an diesem 1. Mai zogen die Bläser, allen voran ein Junge mit der lauten Bång (Trommel), an der Kirche vorbei und die Hauptstraße hinunter bis ins Transchement, um alle Menschen im Dorf mit ihrer Kunst zu erfreuen.
Als uns einmal die kleine Frau R. aus der Niedergasse aufsuchte, sagte meine knapp vierjährige Tochter mit hoher Stimme: Kuck, Mutti, dåt äs åwer ĕn klien Mahni!

Zurück zu den 60ern: Unsere Mädchenbande „überfiel“ bereits im Frühsommer die eigenen Gärten, abwechselnd denjenigen, wo die Eltern gerade nicht in der Nähe waren, füllten die Taschen mit Ägrisch, Rhabarber, Umpert (Sauerampfer) oder grünen Äpfeln, was gerade zur Verfügung stand, und dann nichts wie weg. Es hat sich niemand darum gekümmert, ob wir möglicherweise zu viel der so schädlichen Oxalsäure im grünen Obst zu uns nehmen, höchstens bestand die Befürchtung, dass im Garten kein Obst mehr für Marmeladekochen übrig bleiben würde. Gar keine Oxalsäure hatten die frühen Kirschen: wenn Mitte Juni die Sommerferien da waren, ging es auf den schiefen Kirschbaum und im Wettklettern war ich besser als im Ägrischputzen. Aber auch jetzt machten sich die Eltern keine Sorgen, dass etwa jemand vom Baum fallen könnte. Es kümmerte sich keiner um uns. Wenn man zu spät nach Hause kam, also NACH der Betglocke, dann wurde man halt ausgeschimpft. Erleichtert zu sein darüber, dass man nicht verloren gegangen war, fiel keinem der Erwachsenen ein. Oder hat uns jemals jemand abends vor dem Schlafengehen nach Zecken oder sonstigem Ungeziefer abgesucht? Es hieß einfach nur: Füße waschen und ins Bett!
Aber wir plünderten nicht nur unsere Gärten, wir spielten auch Nachmittage lang Para, Völkerball oder Seilspringen. An Regentagen tauschten wir Schauspielerbildchen aus.

Ich hab mal irgendwo gehört: das Beste, was einem Kind passieren kann, ist ein gesundes Maß an Vernachlässigung. Da ist was dran.

Nur, wenn was Ernsthaftes passiert war, dann war großes Schimpfen und Bestrafen, meist Hausarrest, angesagt.
Zurück zum Kirschbaum: Unter diesem Baum wollte ich als Zwölfjährige meine erste Zigarette probieren, denn zu verlockend war das Päckchen Astor, das der große Bruder vom Schwarzen Meer mitgebracht hatte. Ich wähnte mich allein im großen Garten und war so naiv zu glauben, dass mich keiner sieht. Danke, Bruder, dass du mich nicht verraten hast, sonst hätte es mehr als drei Tage Hausarrest gegeben. Dass ich ein Jahr später mit meinen Freundinnen in der Scheune rauchte, ist nur ein Gerücht. Später waren wir schlauer: Wir gingen in den Garten hinauf, kletterten auf den großen, alten Akawetzen-Birnenbaum und dann rief ich ganz laut Hallo, um zu sehen, ob jemand in der Nähe war. Wenn keine Antwort kam, „war die Luft rein“.

Überhaupt war dieser Garten einmalig: Mit sechs, sieben andern Kindern, Mädchen und Jungen, spielte ich den ganzen Sommer hindurch mit Spielzeugpistolen ausgestattet Cowboys und Gangster, Räuber und Jandaren (Gendarmen) in einem Alter, wo andere Mädchen sich schminkten und nach älteren Jungen Ausschau hielten.
Ein Geheimtipp in diesem riesigen Garten, dessen östliche Grenze ich übrigens nie vollständig erkundet habe, war die Kalipp (rumänisch: coliba): Dorthin hatte mein Bruder mich und meine Freundinnen mal mitgenommen: Ein alter verkrüppelter Baum, der schief über den Hohlweg hing, war in seiner Krone von so vielen Lianen umwachsen, dass man nicht reinschauen konnte: Allerdings „bedrehten“ wir vier uns da grad mal, eine fünfte Person musste sich ganz klein und schmal machen. Und gefährlich wankte und wiegte sich der Baum unter unserem Gewicht, aber er hielt.

Wenn wir Langeweile hatten, gingen wir so trelalela durchs Dorf, also ohne ein bestimmtes Ziel. In der Obergasse sahen wir der kleinen, rundlichen Floare bei der Ziegelherstellung zu: In ihren sieben Röcken, von denen der oberste durchsichtig und aus geblümtem Nylon war, hockte sie auf einem niederen Schemel und füllte mit flinken Händen ein Holzrähmchen mit Lehm, strich ihn glatt und stürzte die Form geschickt neben die anderen Ziegeln, die in mehreren langen Reihen zum Trocknen im Hof in der Sonne lagen. Ab und zu streckte sie sich bei der schweren, monotonen Arbeit, aber es half alles nichts, es musste weiter gehen. Später am Tag wurden die Ziegeln gestapelt und gebrannt. Wenn Floare abends ins Bett fiel, spürte sie ihren Rücken, aber der nächste Tag hielt einen neuen Lehmhaufen für sie bereit.

Vor jedem großen Feiertag schickte mich meine Mutter los, um den Striezel (Cosonac) für 4,75 Lei bei der Kondi-Änn zu kaufen. Den gab es dann am nächsten Morgen zum Frühstück zum Kaffee aus „Enrilo und Cicoare“, denn „schwarzen“, also echten Kaffee gab es nur selten und nur, wenn Gäste da waren.
Bei einer Freundin meiner Mutter holte ich dann im Tausch gegen zweieinhalb Kilo Mehl noch das „gebackene“ Brot ab. Als ob es auch ungebackenes gegeben hätte!? Gemeint war natürlich das SELBST gebackene Hausbrot. Dann konnte der hohe Feiertag kommen.

Manchmal hörte ich meinen Eltern zu, wenn sie sich unterhielten. Zum Beispiel über ihre Schüler: Sie hatten über manche oft ganz verschiedene Meinungen: Einige von denen, die in der Schule besonders gut waren und von ihrer Lehrerin gelobt wurden, schnitten im Konfirmandenunterricht bei meinem Vater gar nicht gut ab, weil sie gelangweilt, frech oder faul waren, während andere, die es in der Schule schwer hatten, dafür beim Auswendiglernen und Singen der Lieder aus dem „Zålmenbeauch“ (Gesangbuch) und den Geschichten aus der Bibel glänzten und durch das Lob des Pfarrers richtig aufblühten.

Einmal hörte ich entsetzt, was meine Mutter meinem Vater erzählte: „Ich hab gestern die Änni G. getroffen. Stell dir vor, auch sie hat sich jetzt ausgekleidet!“ Dass damit nur gemeint war, dass die betreffende Person die bisher übliche bäuerliche Tracht abgelegt hatte und sich nun „härresch“ kleidete (=städtisch), verstand ich erst später.
Wenn ich heutzutage junge schwangere Frauen sehe, wie sie stolz ihren Bauch in enganliegenden Kleidern präsentieren, so erinnert mich das auch ein wenig an früher und das Dorf, in dem ich aufwuchs: Während die sächsischen Frauen ihren Bauch unter weiten Kleidern oder dem Trachtenrock mit Schürze (ähnlich dem Dirndl) dezent verbargen, sah man andere werdende Mütter in engen Röcken, ja sogar mit halb-offenem Reißverschluss in der Öffentlichkeit, aber nicht, weil sie ihren Zustand stolz präsentieren wollten, sondern weil der Bauch schneller wuchs, als die nötige Umstandsbekleidung hätte beschafft werden können. –

* Geiß= Ziege **Gans ***verriegelt

Kiwwern, schemmern, gohmern uch sturkeln. Nå, neppekrittich! Niëtzefuodder:

Kein Wunder, dass unsere bundesdeutschen Mitbürger bei solchen Wörtern nichts verstehen und demzufolge erstaunt äußern: Diese Aussiedler sind schon sonderbare Leute: Tagsüber reden sie rumänisch und am Abend singen sie deutsche Lieder!

In die gleiche Richtung ging die bewundernde Frage an einen pensionierten siebenbürgischen Pfarrer bei einer deutschen Behörde: Was? Sie sind erst seit drei Monaten hier und können schon so gut Deutsch?

Selbst wenn wir bei unserer Ankunft in Deutschland keinen Deutsch-Kurs in Anspruch nehmen mussten, entschlüpfen uns Siebenbürger Sachsen auch mal seltsame Formulierungen, z. B. wenn wir höflich nach dem Weg fragen. Das klingt dann etwa so: „Können Sie mir bitte sagen, WOZU ich denn eigentlich nach Bietigheim fahre?“ Die lakonische bundesdeutsche Antwort lautet prompt: „Das müssen Sie schon selber wissen.“

Astrid K. Thal, Juli 2022

Dichtung oder Wahrheit?

Manchmal komme ich mir vor wie von einem anderen Planeten, wenn ich von Daheim erzähle: Manche Menschen schauen mich ungläubig an, wenn sie hören, dass wir früher unsere Kleidung bei dem Schneider/der Schneiderin anfertigen ließen oder dass wir drei Kachelöfen im Pfarrhaus hatten.

Für beides liefere ich hier die einfache Erklärung:
Es gab keine oder nur wenig Konfektionsware zu kaufen in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Unschön und teuer war sie noch dazu. Meterware gab es eher und so war man mit einem hübschen Stoff und einer guten Schneiderin weit besser dran – und billiger dazu.

Zentralheizungen kannten wir auch nicht und die gängigen Kanonenöfen hätten nicht ausgereicht, um die großen und hohen Räume zu beheizen. Zwei der Kachelöfen waren recht alt und hatten besonders schön verzierte dunkle Kacheln mit Relief, in denen sich leider auch der Staub verfing. Die undankbare Aufgabe des Staubwischens fiel natürlich mir, der Achtjährigen, zu. Der dritte hatte glatte braune Kacheln neuerer Machart, denn sein Vorgänger war explodiert, nachdem ein Sturm durch den Rauchfang (dĕ Kiep) die Flamme im Ofen ausgeblasen hatte, während das Gas unbeachtet weiter strömte. Dies konnte zwar bei Wind schon mal passieren, jedoch musste danach immer ausgiebig gelüftet werden, was meine Mutter einmal leider nicht lange genug getan hatte: Als sie das Streichholz in den Ofen an den Brenner hielt und anzünden wollte, gab es eine Explosion und die Kacheln flogen durch die Luft. Ich befand mich auch im Zimmer, verlor kurz das Bewusstsein und wachte im Liegestuhl auf. Außer dem Schreck, ein paar Kratzern und einer Ruine von Kachelofen war uns beiden aber Gottseidank nichts weiter passiert. –

Da das Gas, wie auch das Brot, damals rationiert war und man nur eine begrenzte Anzahl an Brennern (Debit) erhielt, wurden die Räume, für die es keine Möglichkeit zum Heizen gab, entweder gar nicht oder nur zur Sommerzeit genutzt.

Der Pfarrgarten, den mehrere Generationen von Pfarrern mit den verschiedensten Obstsorten vorausschauend bepflanzt hatten, war so groß, dass er außer dem großen Wald im Osten Richtung rumänisches Viertel noch zwei kleine Wäldchen beherbergte: Hinter dem Haus, vorbei an der Sitzgruppe unter den schattigen Thujabäumen, oberhalb der Johannis- und Stachelbeersträucher ersteckte sich, nur durch einen Pfad von diesen getrennt, das Fliederwäldchen auf ca. 25 m x 15 m. Dieses wurde irgendwann in den späten 60er Jahren von einem alten alleinstehenden Mann aus der Kirchgasse in monatelanger Handarbeit mit einfachen Geräten gerodet, um später als Mais- und Kartoffelacker zu dienen. Der Alte durfte dafür das gerodete Holz zum Heizen seines Hauses behalten. Das zweite, das Haselwäldchen, war nicht ganz so groß und befand sich weiter oben, mitten im stets gepflegten, sprich zwei Mal im Sommer gemähten Obstgarten. In seinem Schatten blühten im frühen Frühjahr massenweise Buschwindröschen und Lärchensporn. Da stoße ich schon wieder auf Ungläubigkeit: Waaas? Ihr hattet zwei Wäldchen mitten im Garten?

Nun, heute ist leider das ganze Areal ein einziger Wald, ein Urwald! Die alten und seltenen Obstsorten wurden vernachlässigt und in nur vier Jahrzehnten von der Wildnis verschluckt und erstickt.

Zugegeben, dass wir die Milch im Henkelmann täglich nach Hause geliefert bekamen, das war tatsächlich Luxus! Dabei war dieser Service nur auf den ersten Blick der Stellung meines Vaters im Dorf geschuldet. Ich würde eher vermuten, dass sich der Bauer, von dem wir die Kuhmilch bezogen, an keine feste Uhrzeit für die Abholung binden wollte und uns die Milch dann lieferte oder durch seine Kinder bringen ließ, wann es ihm passte. Und dies konnte mitunter nach Jahreszeit, Witterung und den verschieden langen Arbeitstagen auch mal variieren.

Wenn die Kinder vom Land weiterführende Schulen in der Stadt besuchten, wohnten sie meistens im Internat. Wieder so ein sprachliches Missverständnis! Was, ihr wart auf einem Internat? Nein, nicht AUF, sondern IM Internat! Diese Einrichtungen in Hermannstadt und anderen größeren Städten Siebenbürgens hatten nichts gemein mit teuren englischen oder Schweizer Elite-Internaten für die Kinder reicher Eltern. Es waren einfach nur günstige betreute Unterkünfte mit großen Schlafsälen für die Schüler aus dem Umland, die nicht die Möglichkeit des täglichen Pendelns hatten.

Zu meiner Zeit waren die Schulleitungen verpflichtet, ständig irgendwelche Sammlungen durchzuführen. Also sammelten die Schüler Weißdorn- und Taubnesselblüten, altes Eisen, Papier und Lumpen. Sogar Maikäfer sollten wir in den Schaltjahren einfangen und abgeben: Weil das Chitin angeblich zur Herstellung von Arzneimitteln verwendet wurde oder doch nur, um in den Gärten der Plage durch die vielen hungrigen Käfer Herr zu werden? Besonders ekelhaft war das Einsammeln der Colorado-Käfer in den Kartoffelfeldern. Aber aus heutiger Sicht mag diese Art der Schädlingsbekämpfung eine umweltfreundliche Alternative zum Spritzen von Gift und Chemie gewesen sein. Nicht zu vergessen sei übrigens die wochenlange „patriotische Arbeit“ der Schüler und Studenten im Herbst auf den Feldern, wenn die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe es nicht schafften,
die Ernte vor Wintereinbruch einzufahren!

Der alte Maulbeerbaum oder der Ritt über den … Hof

Zu Beginn der großen Ferien wurden in einigen Klassenzimmern die Schulbänke ausgelagert und lange mit Papier ausgelegte Tische aufgestellt, auf denen Tausende von Seidenraupen verteilt wurden. Diese benötigten, wie alle Lebewesen, Nahrung. Also brachten die Schulkinder wochenlang täglich Maulbeerblätter aus ihren Höfen und Gärten in gehäkelten Einkaufsnetzen oder Körbchen in die Schule, damit die Raupen schnell wachsen und sich zu knallgelben Kokons einpuppen konnten. Dann wurden diese an die Staatsbetriebe abgegeben. Ob die Schule je etwas dafür erhalten hat? Möglicherweise. Die Schüler jedenfalls nicht! Nicht direkt, denn im Nachhinein betrachtet waren kostenlose Schulbücher und ein kostenloses Schul- und Hochschulsystem durchaus auch etwas wert. –

Wir hatten im Pfarrhof einen großen, uralten Maulbeerbaum, von dem durch einen Sturm ein riesiger Ast abgebrochen war. Das war nun recht bequemes Blätterpflücken und es fanden sich mehrere Erwachsene und Kinder ein, um ihr Soll an die Schule zu erfüllen. Im Wirtschaftshof waren außerdem noch zehn Hühner mit Hahn am Scharren, Gackern, Krähen und die Kram mit ihren fünf Ferkeln. Letztere suhlten sich in der vom letzten Regen frisch aufgefüllten Schlammkuhle mitten im Hof. Irgendetwas schien der Sau aber nicht geheuer zu sein. Ich glaube, sie befürchtete, dass ihr die saftigen Maulbeeren entgehen könnten, wenn der Baum weiterhin entblättert wird. Sie stieg aus ihrem Pool, fixierte die Fra Loihrerän, rannte voll Schlamm triefend los und nahm unsere Gertrut glatt auf den Rücken und einige Meter mit, quer durch den Hof. Zum Schreck und der buchstäblich eingeSAUten Kleidung unserer lieben Lehrerin kam nun noch das (mehr oder weniger) respektvoll verhaltene Lachen der Umstehenden hinzu. Denn wer den Schaden hat…

Ich muss mal nach Jamaika!

Und wenn wir schon beim lieben Vieh sind: Wer kann sich noch an die große Vieh- und Fruchtwaage* direkt an der Hauptstraße neben der Fårreschbräck am Bach erinnern? Sie war überdacht und sinnigerweise von zwei Seiten begeh-, befahrbar. Irgendwann wurde sie leider abgetragen, wahrscheinlich, weil sie nicht mehr gebraucht wurde.
Und wer weiß noch, dass es in unserem Dorf auch einen Aprosar gab? Er wurde aus bunten Pressspanplatten mit Wellblechdach genau neben der Viehwaage am Bach errichtet. Erstaunlich, ein Aprosar auf dem Land? Man sollte denken, am Dorf hat man genügend Gemüse und Obst aus eigener Produktion! Aber dieser Gemüseladen hatte richtigen Zulauf, vor allem gegen Abend, wenn die Leute vom Feld oder „vom Autobus“, also aus der Stadt und der Fabrik kamen. Es gab nämlich außer dem gewöhnlichen Gemüse und Obst hier auch Auberginen, Paprika und v. a. Melonen zu kaufen, die ja bekanntlich in unseren Breiten nicht angebaut werden konnten. Der Verkäufer hieß Fîntînă und ich unterhielt mich als Kind manchmal mit ihm, auf dem Ablagebrett vor dem Verkaufsfenster hockend. Er nannte mich „tu Jamaică“ wegen meinem dunkeln, krausen Haarschopf.
*Frucht bezeichnete im Stolzenburger Dialekt nicht Früchte im Sinne von Obst sondern das Getreide. Fruchtkästen = Korn-/Getreidekästen

Der Apfel-Pfarrer

Gelegentlich verteilte der Pfarrer persönlich unter den Leuten, von denen er wusste, dass sie kein oder nur wenig Obst im Garten hatten, die kleinen, saftigen Sommerbirnen, Akawetzker genannt oder verschiedene Sorten von Äpfeln, je nachdem, was gerade reif und in Hülle und Fülle vorhanden war. Im Herbst dann gab es im großen Pfarrgarten erst recht viel Obst, sowohl zum Verteilen als auch zur Mostverarbeitung. Hierzu wurden die Äpfel erst gewaschen und dann im alten Steintrog im Hof mit großen, schweren zurechtgeschnittenen Holzpfosten zerstampft. Als Achtjährige hatte ich einen eigenen kleinen „Stampfer“ von der Größe eines Baseballschlägers, nur dass das Ende nicht abgerundet sondern flach war, um die runden Äpfel besser zermantschen zu können. Der süße Saft floss eimerweise aus der geliehenen schweren gusseisernen Kelter und schmeckte nicht nur den Menschen sondern auch den Bienen und Wespen. Ein Teil des Mostes wurde abgekocht und in Flaschen gefüllt, der Rest kam in ein Eichenfass und wurde zu Wein, den aber nur mein Vater trank, sonst mochte ihn keiner. „Probier doch wenigstens mal!“ sagte er zur Mutter und später auch zu uns, aber wir dankten: „Nein, der schmeckt ja mausig!“ Dabei wusste eigentlich niemand, wie Mäuse schmecken! Was vom Apfelwein übrig blieb, wurde Essig. Diesen verkauften wir dann den fortschrittlichen und modernen Heltauern. Sie tranken ihn wie Medizin, da er angeblich sehr gesund sein sollte.

Nachhaltigkeit oder der Mantel mit den drei Seiten

Soviel ich weiß, haben Textilien zwei Seiten: ein Oben und ein Unten, eine rechte und eine linke Seite. Nun, es geht auch anders, denn Not macht erfinderisch.

Meine Mutter hatte einen Mantel, der an der Knopfleiste und an den Ärmeln nach jahrelangem Tragen etwas abgenutzt war. Sie brachte ihn zu der Frau mit den goldenen Händen und diese trennte ihn auf, drehte den Stoff auf Links und machte einen fast neuen Mantel daraus. Nach ein paar Jahren war auch diese Seite abgetragen und meine Mutter konnte sich keinen neuen Mantel leisten. So nahm unsere Schneiderin den Mantel noch einmal in Augenschein und siehe da, er sah auf der Innenseite tatsächlich viel besser aus als außen. Also wurde er flugs noch einmal gewendet. So bekam der alte Mantel ein drittes Leben.

Auch am Hals zerschlissene Hemden konnte die Frau mit den goldenen Händen noch retten: sie trennte den Kragen ab und wendete ihn. Wenn dann auch dieser Kragen durchgescheuert war, gab es noch eine letzte Möglichkeit, das Hemd zu retten: aus dem recht langen Rückenteil konnte unten ein schmaler Streifen Stoff herausgeschnitten werden und zu einem nagelneuen Kragen umgearbeitet werden. Sowas nennt man heute Nachhaltigkeit.
Als die lieben Nachbarn auswanderten, hinterließen sie bei uns eine große Lücke: Die Freundinnen, die Mutter mit den geschickten Händen und vor allem vermisste ich als 19jährige die vertraulichen Gespräche mit der Nachbars-Großmutter in ihrer kleinen Sommerküche.

Aber wie es im Leben so ist, wenn sich eine Tür schließt, tut sich eine andere auf. So vertraute ich von da an auf die Geschicklichkeit und Zuverlässigkeit einer jungen Frau und Mutter, die mit ihrer Familie ein stattliches und stets akkurat aufgeräumtes Haus in der Anglergasse bewohnte. Danke, Mariechen, für deine Freundlichkeit, deine wertvolle Hilfe und das Kompliment, das du mir mal bei einer Anprobe machtest: „90-60-90, wie ein Model“.

Däüt mīeng Allerheschtet

Er arbeitete hart und im Schichtdienst bei der Bahn, um seine Familie zu ernähren. Manchmal erzählte er vom 2. Weltkrieg und der Gefangenschaft. Die Erinnerung daran und die Tatsache, dass er bei seiner Rückkehr seine Mutter nur noch auf dem Friedhof besuchen konnte, wurden – wer konnte es ihm verübeln – zuweilen im Wein ertränkt. Aber nicht im Wirtshaus, dorthin gingen nur die „schwachen Leute“. Man trank zu Hause, ab und zu ein Gläschen oder zwei oder auch drei, mit dem Nachbarn oder dem Kameraden aus Kriegszeiten, denn man hatte ja, was man brauchte, im eigenen Keller. Seine drei Mädchen aber waren sein ganzer Stolz und so halfen auch sie ihm dabei, das Schreckliche zu vergessen. Die jüngste nannte er immer „däüt mīeng Allerheschtet“ oder „Däüt schåtzig mīengten“. Was nicht heißt, dass er die anderen nicht genau so lieb hatte. Schließlich war jedes zu seiner Zeit einmal das jüngste und kleinste, das einzigste und das allerhübscheste gewesen.
Ich habe diesen Ausdruck all die Jahre „aufbewahrt“ und sage nun zu meinen vier Enkeltöchtern zuweilen auch „dåt meng Allerheschtet“. Die Kinder sehen mich erstaunt an: „Oma, nicht mehr flüster!“, aber sie fühlen vielleicht, dass es Liebkosung und beschützende Beschwörungsformel sein soll. Die Erwachsenen indes blicken verständnislos oder hören weg, aber das macht mir nichts aus

Schwiegermutter-Suppe

Meine Mutter bekam sie von ihrer Schwiegermutter bei ihrem Antrittsbesuch vorgesetzt. Mir wurde sie zufälligerweise auch serviert, als ich das erste Mal bei meiner Schwiegermutter zu Besuch war. Deshalb habe ich sie „Schwiegermuttersuppe“ getauft und sie auch meinen reichsdeutschen* Schwiegerkindern, dem „Oidĕm“ (=Eidam)** und der Schnirich**, aufgetischt: Es handelt sich um die Ägrischsuppe. Süßsaure Suppen sind übrigens siebenbürgische Spezialität und gute Hausmannskost. Als Kind hab ich sie nicht sonderlich gemocht, vielleicht aber auch nur, weil meine Mutter etwas abfällig ihren ersten Besuch bei Ihrer „Schwieger“ erwähnte: „Es gab Ägrischsuppe – und dann auch noch mit Grießknödeln!“. Dabei hatte sich unsere Grisi im Kriegsjahr 1944 sicher große Mühe gegeben, ihrer Schnirich etwas Besonderes, nicht Alltägliches zu bieten. Ich habe mehr Glück als meine Großmutter, denn meiner Schwiegertochter schmeckt (fast!) alles, was ich koche. Und der Schwiegersohn bat sogar um Nachschlag. Als ich ihn fragte, wie ihm die Stachelbeersuppe denn geschmeckt habe, meinte er: „Abgefahren, aber gut!“ Na, das kann sich doch sehen lassen!

*die Siebenbürger Sachsen nannten die Bewohner Deutschlands auch nach 1945 umgangssprachlich weiterhin „Reichsdeutsche“. In Deutschland angekommen, wissen auch sie inzwischen, dass dieser Begriff überholt ist und sind zur lapidaren Bezeichnung „die Hiesigen“ übergegangen.

** Eidam ist eine alte Bezeichnung für Schwiegersohn. Das siebenb.-sächsische Schnirich kommt von Schnur, welches ebenfalls ein altes, vergessenes deutsches Wort ist und Schwiegertochter bedeutet.

Ikonen, Bibeln und Waffen

In der Zeit der Ceauşescu-Diktatur, also vor 1989, war es verboten, Gegenstände wie Bibeln oder Waffen ins Land einzuführen. Wiederum andere, vor allem Kunstgegenstände und Antiquitäten, durften das Land nicht verlassen, denn sie gehörten nach Ansicht des Diktators und der kommunistischen Ideologie zum „Patrimoniu national“, waren also Staats-/Volkseigentum.

Ein deutscher Tourist wird beim Verlassen des Landes gefragt, ob er Ikonen oder Gemälde im Gepäck habe. Er entgegnet: Bin ich denn verrückt, dass ich meine Rembrandts mit mir in den Urlaub schleppe?

Die Kathi aus Nürnberg besucht ihre alte Heimat und wird bei der Einreise von den rumänischen Grenzbeamten streng gefragt: Haben Sie Bibeln?

Sie, kurz : Nein. Als der Beamte sie eindringlicher ansieht, fügt sie hinzu: Na, so religiös bin ich nun auch wieder nicht, dass ich immer meine Bibel mit mir nehme!

Das Verhör geht weiter: Haben Sie Waffen? Jetzt reicht‘s der Kathi: Nein, ich habe auch keine Waffen. Wir sind erst seit einem Jahr in Deutschland und haben kein Geld für Waffen!

Rumänen und Sachsen machten sich gern über einander lustig. So sagten die Rumänen über die Sachsen: Sasu, cînd e prost, e prost cu găleata. (Der Sachse ist manchmal so dumm, dass man seine Dummheit mit Eimern tragen kann). Damit ist nicht wirklich Dummheit sondern ein übertrieben hohes Maß an Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit gemeint, so dass er sogar auf seinen eigenen Vorteil verzichtet, nur um gegen keine Vorschrift zu verstoßen. Auch vom ausgesprochenen Fleiß der Sachsen hatten die recht genügsamen Rumänen eine besondere Meinung:

Wenn der Sachse nichts zu tun hat, reißt er sein Haus ein und baut ein neues.

Astrid K. Thal, Mai 2022

Unser täglich Brot gib uns heute

Die Ereignisse in Osteuropa machen auch mich sprachlos. Ich spende, hoffe und bete für den Frieden in der Ukraine und in der Welt.

Brot ist wichtig, ohne das Brot geht gar nichts. Daran hat sich für mich bis heute nichts geändert. Ohne Brot werde ich einfach nicht satt! Regelmäßig kaufe ich zu viel davon, aus Angst, es könnte nicht reichen! Vielleicht weil es früher, ganz früher, oft knapp war? Nicht, weil das Geld fehlte, für Brot war immer welches da, sondern weil es in den 50er und 60 Jahren des vorigen Jahrhunderts rationiert war in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin. Wenn „dĕ Kartell“ (der Brotschein) bis zum nächsten Wochenanfang aufgebraucht war, dann buk meine Mutter mit Hefe selber eines oder es gab Palukes. Warme Palukes mit kalter Milch oder mit Käse als Auflauf oder kalte Scheiben in Fett knusprig gebraten, Mais-Chips sozusagen. Ein noch besserer Ersatz für Brot waren Bratkartoffeln und eine Tasse kalte Milch dazu. Problem: Mein großer Bruder war ein ebenso großer Milchtrinker. Während die Eltern Porzellantassen hatten, gab es für uns Kinder drei – unzerbrechliche – weiß emaillierte Blechtassen (Däppcher), an denen die Emaille abgesplittert war und zwar in so unterschiedlichen „Mustern“, dass ich sie an diesen Absplitterungen sogar voneinander unterscheiden konnte. Wenn das Däppchen des großen Bruders leer war, sagte er etwa: Schau mal Astrid, was ist dort hinter dir? Dann drehte ich mich um und suchte die Wand ab. Währenddessen hatte er meine fast volle Tasse mit seiner leeren vertauscht. Es folgten Tränen der Wut meinerseits, denn ich hatte den „Betrug“ sofort bemerkt, er lachte unbeschwert und Mutter versuchte halb ernst, halb lachend, ihn zu ermahnen.
Meistens vor den hohen Feiertagen wurden im großen gemauerten Backofen acht bis zehn mächtige Brotlaibe gebacken, die hielten dann Wochen vor. Und wenn mal ein Brot nach längerer Aufbewahrung an einer Stelle schon leicht angeschimmelt war, schnitt meine Mutter den befallenen Teil großflächig weg.

Bevor man einen neuen Brotlaib anschnitt, deutete man mit dem Messer auf der Unterseite des Brotes drei Kreuze an. Manche Leute belächeln verständnislos mein Ritual und scheinen nicht zu verstehen, was es bedeutet: „Danke!“ und: „Unser täglich Brot gib uns heute!“ Die Menschen in anderen Teilen der Welt wissen, wie ernst es ihnen mit dieser Bitte ist. Denn Brot ist leider auch heute noch keine Selbstverständlichkeit.

Auch beim Einkaufen habe ich gar seltsame Anwandlungen: Eine Packung Mehl war beschädigt und der Inhalt begann herauszurieseln, als ich die Ware auf das Kassenband legte. Die Kassiererin meinte, ich solle mir doch eine neue Packung holen. Ich fragte: „Was passiert nun mit der geplatzten Tüte?“ „Sie wird weggeworfen“. Daher bezahlte ich die verunglückte Packung und nahm sie mit. Ich sage mir immer: Solange Menschen auf der Welt hungern, möchte ich möglichst keine Lebensmittel wegwerfen.

Marina, Marina…

Ich bin ungefähr sieben Jahre alt und wir haben seit Neuestem ein Radio. Daugawa heißt es und die Buchstaben auf dem beleuchteten Bildschirm sind so komisch und fremd und ergeben kein einziges bekanntes Wort. Später erfahre ich: Die Buchstaben sind Kyrillisch und die Sprache ist Russisch. Das Radio kommt, wie so Vieles in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg, aus der Sowjetunion. Aber der Sender, den meine Mutter schließlich findet, spricht Deutsch. Um acht Uhr abends erklingt das Deutschlandlied und meine Mutter dreht den Ton leise, damit nicht etwa jemand auf der Straße im Vorbeigehen mithört und den Behörden meldet, dass wir verbotene Sender hören. Danach kommen die Nachrichten und die Hitparade. Der erste Schlager, an den ich mich erinnern kann, ist „Marina, Marina, Marina….“. und der zweite und liebste: „Es gibt kein Bier auf Hawaii…“.

Meine Mutter ist Lehrerin und daher verpflichtet, die Zeitschrift „Die Sowjetfrau“ zu abonnieren. Aber weder sind interessante oder bunte Bilder drin, noch liest sie irgendjemand, denn was da drin steht, glaubt eh keiner. Und sie verströmt einen sonderbaren, unangenehmen Geruch nach Druckerschwärze.

Auf der Straße erklingen an den Sonntagnachmittagen fremdartige Melodien aus Lautsprechern, die an Straßenlaternen angebracht sind. Die Musik soll vom ständigen Mangel ablenken, die Leute unterhalten und zu guten, neuen Menschen erziehen. Wir hören jedoch lieber im Radio die deutsche Hitparade oder Mutter singt uns beim Bügeln die alten Lieder vor, etwa das traurige „Brännchen um gräne Rihn“ (Das Brünnlein) oder „Häsken hot e klinzig Näst än den Ägerschbiemen“. Und im Frühjahr schallt, sobald die ersten Paulemitzker (Palmkätzchen) erscheinen, unser lautes „Det Frahgĕhr kit än de Wiëdjen…“! Am schönsten aber ist, wenn Mutter „Ǻf deser Iërd do äs e Lånd…“ singt und ich beim zweiten Mal sofort mitsingen kann. Ein richtig kleines Kunstwerk, dieses Lied: Die Gedanken des Weitgereisten wandern von der großen weiten Welt über das Heimatdorf zu dem bescheidenen Heim, in dem das Wertvollste auf ihn wartet: Der Mensch, der ihm die Treue gehalten hat.

Tüchtigkeit und Disziplin

Es ist kalt und dunkel, wenn die Mutter Montag früh um Vier aufsteht, das Regenwasser auf dem Herd erhitzt und anfängt, die Wäsche auf herkömmliche Art mit der Hand auf dem Waschbrett zu waschen.

Die Frau, die ihr bisher geholfen hat, ist zu ihrem Sohn gezogen, um dessen Nachwuchs zu betreuen. Ich mochte Frau G. sehr, sie war, Kriegswitwe und alleinerziehend, immer gut gelaunt und konnte viel erzählen. Zum Beispiel, dass sie als Kind bei der Stiefmutter aufgewachsen war und diese ihr beim täglichen Kämmen der langen Haare und Flechten der Zöpfe immer wehgetan hatte.

Meine Mutter fragte sie von Zeit zu Zeit: „Na, was schreiben die Söhne von der Universität in Bukarest?“ Frau G.: „Na, was sollen sie schreiben? Immer dasselbe“. Wenn meine Mutter sie dann fragend ansah, meinte sie lakonisch: „Sie schreiben immer nur: Liebe Mutter, schickt mir Geld!“

Hierbei ist zu bemerken, dass Kinder früher ihre Eltern nicht mit „du“ sondern mit „Ihr“ ansprachen.
Kurz vor der Geburt ihres ersten Enkels saß Frau G. nach getaner Arbeit mit meinem Bruder an unserem Küchentisch und ließ sich von ihm alle Vornamen aus dem Evangelischen Kirchenkalender vorlesen. An DEM Küchentisch übrigens, der schon so viel gehört und gesehen hat… (s. mein Beitrag „Et wor emol“ vom Dezember 2020 auf der internet-Seite der Stolzenburger.)

Als mein Bruder bei „Volker“ angelangt war, sagte sie: DAS ist ein schöner Name! Volker soll mein Enkelsohn heißen.

Nun ist Frau G. weg und meine Mutter hat noch immer keine elektrische Waschmaschine. Und doch ist am Montagmorgen bis Viertel vor Acht die gesamte Wäsche von einer Woche zweimal mit der Hand gewaschen, dreimal im kalten Brunnenwasser gespült, mit bloßen Händen ausgewrungen und zügig auf die Wäscheleine im Garten aufgehängt worden. Danach „richtet“ sich meine Mutter für den Unterricht und geht mit einem Stapel verbesserter Schulhefte in die nahe gelegene Schule. Bis sie dort ankommt, ist die Wäsche im Garten gefroren und steif wie ein Brett. Am Eingang zum Schulgebäude steht der Herr Direktor, hebt seine rechte Hand demonstrativ hoch und blickt kritisch auf seine Armbanduhr. Es ist zwei vor Acht!

Wenn meine Mutter heimkommt, laufe ich ihr entgegen und umarme sie. Sie duftet nach kalter Winterluft, gepaart mit Kölnisch Wasser „4711“. Dazwischen mischt sich ein Hauch von Petroleumgeruch. Letzterer kommt von den Klassenzimmern, in denen halbjährlich der Fußboden aus Hygienegründen mit Petroleum eingelassen wird. Auch dagegen hat meine Mutter ein Rezept: Sie hängt Rock und Bluse nach dem Schuldienst täglich zum Lüften in das offene Fenster oder auf die Veranda. Eigentlich ist es keine Veranda, es ist der überdachte „Zementgang“ hinterm Haus, der früher eine Kegelbahn war, ausgestattet mit einer schiefen Holzrinne an der linken Wand für die zurückrollenden Kugeln. Einfach, aber clever.

Der blaue Ball

Ich habe etwas Taschengeld gespart und damit gehe ich zum Steffel-Oihm in den Schreibwarenladen des Dorfes. Dort gibt es ein buntes Buch, das ich mir schon etliche Male ansehen durfte, aber kein Geld hatte, es zu kaufen. Nun hab ich die 9 Lei zusammen und trage das Bilderbuch stolz nach Hause. Der blaue Ball hingegen mit den weißen Punkten ganz oben im Regal kostet ganze 20 Lei! Aber bis zum Sommer hab ich das Geld sicher gespart, wenn ich mir nicht allzu viele Eugenias (Schokokeks) kaufe. Meinen Brüdern werde ich den Ball erst gar nicht zeigen, damit ihm nicht das gleiche Schicksal blüht wie dem vorigen, den sie als Fußball missbraucht und kaputtgeschossen haben

Grün!

Als Schulkinder hatten wir Mädchen im Sommer eine Wette, bei der es aber außer Anerkennung nichts zu gewinnen gab: Wenn wir uns in der Schule oder auch nur zufällig auf der Straße begegneten, fragten wir uns gegenseitig: „Grün?!“ Also musste man immer etwas Grünes, ein Blatt, eine Blume oder ein Zweiglein dabei haben, sonst wurde man als „schwach“, als Verlierer ausgelacht. Sicherheitshalber legte ich ein grünes Blatt in meinen Schuh, so dass ich immer „Grün“ dabei hatte.
Den Ausdruck „schwach“ hatten wir von den Erwachsenen aufgeschnappt. Das bedeutete nicht nur, dass man körperlich schwach war sondern auch, dass man ein Mensch war, der es zu nichts gebracht hatte: „Ĕn schwåch Kuond“.

Ein Weihnachtsgeschenk, das nichts kostet:

Dies trug sich vor langer, langer Zeit zu: Ein Familienvater aus Schäßburg hat viele Kinder und kaum Geld, sie zu ernähren. Es reicht vorn und hinten nicht und schon gar nicht für Weihnachtsgeschenke. Ein bitterkalter schneereicher Winter hat Einzug gehalten und sein Nachbar fragt ihn kurz vor Weihnachten: Na, Will, was schenkst du deinen Kindern zum Christtag? Der Will denkt nach und sagt dann erleichtert: Ich p…schen ĕn Glätsch! Dron hot ĕn jedet äst dervun. (Ich pi… im Hof eine Eisrutsche, dann hat jedes Kind was davon!)

Auch der Nodu, der am Ende des Dorfes bei den Cortoraren zu Hause ist, hat zu Weihnachten nichts bekommen. Seine Mutter schickt ihn jedoch gewissenhaft zur Schule, wenngleich die Familie bald weiterziehen wird. Nicht mal ein Pausenbrot hat er dabei, aber Nodu weiß sich zu helfen: Er spuckt den anderen Kindern, die hungrig in ihre Fettbrote beißen, da drauf. Die Kinder werfen das Brot dann vor Ekel auf den Boden und suchen das Weite – und Nodu hat was zu essen. Manchmal muss er seine ausgesuchte Beute nur mit seinem Finger berühren und schon hat er, was er will.
Dass ich an diesen Nodu erinnert wurde, kam so: Jeder, der die Fastnacht in Franken im Bayerischen Fernsehen gesehen hat, kennt den Komiker Michel Müller. Nun erzählte er bei der letzten Fastnachtveranstaltung im Februar d. J. , wie er sich als Kind nur das billige Wassereis leisten konnte und deshalb den Kindern reicher Eltern das teure Eis aus der Hand schlug, es dann vom Boden aufhob, abwischte und genüsslich verzehrte. Kinder und Kulturen sind doch nicht so verschieden, wie man gemeinhin denkt.

Das Schäßburger Erbe der Frä Fårrerän oder Möbel, die Geschichten erzählen könnten…

Eine Woche vor der Hochzeit geht das Brautpaar mit den Trauzeugen (diese waren in unserem Dorf immer männlich!) am frühen Abend zur Verlobung ins Pfarrhaus. Die Zeremonie dauert ungefähr eine halbe Stunde und spielt sich ausnahmsweise nicht in der Küche ab – dort werden nämlich gerade die Pfarrerskinder gebadet – sondern im Salon, der in der Familie „das Rote Zimmer“ heißt. Am Abend vor der Hochzeit findet sich das Brautpaar noch einmal im Pfarrhaus zur Betstunde ein, diesmal ohne die Trauzeugen.

Da wir Kinder im Haus während der Betstunde besonders leise sein müssen und das Betreten des Roten Zimmers strengstens verboten ist, ahnen wir unbewusst die große Bedeutung dieser Zusammenkunft, schließlich will der Entschluss „bis dass der Tod uns scheidet“ wohl überlegt sein.

Im Nachhinein kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass in den knapp 28 Jahren Amtszeit des Pfarrers E.-O. Schneider fast alle Stolzenburger mindestens einmal in diesen Sesseln Platz genommen haben, entweder als Brautpaare oder als Trauzeugen – oder beides. Es ist dies übrigens die drittlängste Amtszeit in der Liste der Stolzenburger Pfarrer. Länger als Pfr. Schneider haben nur die Pfarrer Thomas Bomelius und Thomas Bordan im 16. – 17. Jh. in Stolzenburg „gedient“. Dies kann man im Heimatbuch von Michael Hihn nachlesen.

Außerdem erfuhren diese mit dunkelrotem altem Samt bezogenen Sessel aus der Biedermeierzeit und von der Schäßburger Großmutter der Pfarrersfrau stammend eine Karriere als Bühnendekoration, wenn mal wieder ein Laienspiel im Großen Saal der Gemeinde zur Aufführung kam.

Die sich anschließenden Tanzveranstaltungen („Ball“) fanden übrigens immer getrennt nach Nationalität statt, also lautete die Ankündigung auf dem Plakat vor dem Eingang entweder „Bal săsesc“ oder „Bal românesc“.

TierHALTUNG

Einmal musste ich meinem Vater helfen, unsere Zuchtsau, die Kram, zum Ciuvică zu treiben, der ganz oben im Winkel wohnte. Also nicht zu ihm, sondern zu seinem Eber. Ich hoffte inständig, dass mich niemand aus meiner Klasse auf dem Weg dorthin sehen würde. Was mein Vater über seine 12-13jährige Tochter dachte, weiß ich nicht. Jedenfalls durfte ich nicht mit in den Hof. Mein Vater wies mich an, auf der Straße vor dem Tor zu warten. Nun darf man sich das Anwesen des Ciuvica nicht so blickdicht und hermetisch vorstellen, wie es die Zäune, Tore und Mauern manch einer sächsischen „Festung“ waren. Demzufolge fand sich auch leicht ein Schlitz im Holzzaun, durch den man die tierischen Vorgänge auf dem Hof zwecks Zeugung möglichst vieler kleiner „Bårchelcher uch Kramcher“ (männliche und weibliche Ferkel) mit verfolgen konnte. Das alte deutsche Wort „Barch“ für ein männliches Ferkel/Schwein fand ich übrigens bei der Lektüre der Josephsromane von Thomas Mann wieder und auch den Ausdruck „abtun“ für „schlachten“ fand ich hier. Für die Herkunft von „Kram“ habe ich allerdings keine Erklärung!
Auch auf dem Heimweg hat mich Gott sei Dank keiner meiner Mitschüler mit der Sau gesehen. Nicht auszudenken, was für ein Gespött und Gejohle mich am nächsten Tag in der Schule erwartet hätte!

Meistens kurz vor Weihnachten wurde ein Schwein geschlachtet und wenn es von „guter Art“ (dëis gäden Äourt) war, dann hatte es mindestens eine Handbreit (Männerhand!) Speck unter der Schwarte und brachte seine 150 – 180 Kg auf die Waage. Dazu gehörte, dass man es richtig fütterte, es also „gut hielt“. Man gab ihm nicht einfach nur dünnes Geschlabber, sondern das Verfüttern von viel „Kukĕrus“ ergab das schmackhafte Fleisch. Der Stolzenburger Mais war übrigens in der ganzen Region seit jeher für seine Güte bekannt.

Wie die frische Bratwurst von solch einem „gut gehaltenen“ Schwein schmeckt, kann man nicht beschreiben, die muss man probiert haben. Vor allem Stadtkinder glauben einem das nicht, denn sie fragen erstaunt: Waaas, ihr esst Wurst vom SCHWEIN?! Wir kaufen sie im Geschäft.

Das Pfarrerehepaar traf nach langer Zeit einen Mann aus seiner früheren Gemeinde. Der Martinsberger wollte der Pfarrersfrau ein Kompliment machen, kam aber bei ihr gar nicht gut an. Er sagte nämlich zum Pfarrer: „Härr Vuĕter, Sä hålden sĕ åwer gat, de Fra Motter!“

Astrid Karin Thal geb. Schneider, April 2022

Siebenbürgen 1944 – 1945

Wie die Menschen von Stolzenburg diese Zeit erlebt haben, wird zwar im Buch von Michael Hihn, 2019 erschienen, ausführlich geschildert, jedoch kann das unermessliche Leid, das über jeden einzelnen hereinbrach, nicht im Entferntesten nachempfunden werden. Enteignung, Verschleppung, Gefahr für Leib und Leben sowie Verlust von nahen Verwandten: All das ist heute noch allgegenwärtig im persönlichen wie auch im kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft. Dies erfahre ich immer wieder in vielen Gesprächen mit Landsleuten. Mein Fazit: Erinnern ist gut. Nicht zu vergessen ist gut. Und verzeihen ist gut. Das rumänische Sprichwort hat recht: Am iertat, dar n-am uitat.

Der Feldgraue

Es ist Spätsommer 1944: Die Rote Armee, vereint mit der rumänischen, die vor Kurzem noch mit den Deutschen verbündet war, überrollt ganz Siebenbürgen und es herrschen dementsprechend chaotische Zustände und großes Durcheinander. Angst und Ungewissheit sind zu ständigen Begleitern der Menschen geworden.

Ein junges, verliebtes Paar, auf der Suche nach etwas Normalität, macht einen Abstecher nach Heltau zum elterlichen Garten, in dem ein Sommerhaus aus Holz steht. Die junge Frau erinnert sich: Hier hat sie früher mit ihren Eltern und Geschwistern jedes Jahr die großen Ferien verbracht. Heiße Tage im nahen Schwimmbad und Pilze sammeln nach einem Regen: Eine glückliche, unbeschwerte Kindheit eben.

Beim Betreten des nun verwilderten Gartens huscht plötzlich eine graue Gestalt den Hang hinter dem Gartenhaus hinauf und verschwindet im Gebüsch an der Grundstücksgrenze. Die jungen Leute vermuten erst einen Dieb und rufen laut „Stai!“. Plötzlich – und doch zu spät – kommt ihnen der Gedanke, dass es möglicherweise der Soldat einer versprengten deutschen Einheit sein könnte, ein Feldgrauer also. Sie versuchen, auf Deutsch den Mann zurückzurufen, aber die Gestalt bleibt verschwunden. Seine auf dem Rückzug befindliche Einheit wieder zu finden, wäre für den Wehrmachtssoldaten – ohne Hilfe – ein Ding der Unmöglichkeit und sich in der nunmehr feindseligen Öffentlichkeit blicken zu lassen, bedeutet auf jeden Fall Gefangenschaft oder noch Schlimmeres. Diese plötzliche Erkenntnis erfüllt die beiden jungen Menschen mit großem Bedauern und Mitleid, hätten sie ihm doch gern in irgendeiner Weise geholfen, wenn sie geistesgegenwärtig gewesen wären. Nicht nur, weil sie selber Brüder an der Front haben und nicht wissen, wo sie gerade sind und wie es ihnen geht.

Dezember 1944: Das junge Paar heiratet. Kommentar der Brautmutter: WER kommt in DIESEN Zeiten auf die Idee zu heiraten?

Der Notär und Menschenfreund

Anfang Januar 1945: Gerüchte über eine Zwangsverschleppung der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung Siebenbürgens nach Russland machen die Runde. Leider bleibt es nicht bei Gerüchten. In jedem Ort mit deutscher Bevölkerung erstellen die rumänischen Behörden Listen mit den Namen derer, die sich demnächst an einem bestimmten Sammelplatz für die Verschickung nach Russland einzufinden haben.
Der rumänische Notär (= Gemeindesekretär) eines kleinen Dorfes hat von sich aus angeboten, eine brennende Kerze in sein Fenster zu stellen, sobald Gefahr droht.

Eines Abends Mitte Januar 1945 ist es soweit. Es brennt eine Kerze im Haus gegenüber. Der junge Mann will sich stellen und mit den anderen Dorfbewohnern, die auf der Liste stehen, nach Russland gehen, aber seine frisch angetraute energische Ehefrau und der Kirchenvorstand sind entschieden dagegen und meinen, dass er gerade jetzt vor Ort gebraucht werde. Und – soll er von Russen und Kommunisten dafür bestraft werden, dass er sich 1943 aus einer festen Überzeugung heraus den Nazis verweigert hat? Gutes Argument. Das junge Paar zieht also mit einigen Gleichgesinnten für unbestimmte Zeit in ein Versteck im Wald.

Zwischenzeitlich wird ihr erst kürzlich eingerichteter Hausstand geplündert: Nicht nur nagelneue Tisch- und Bettwäsche lassen die Soldaten der Roten Armee mitgehen: Es gibt sogar einen Literaturliebhaber unter ihnen: Mehrere dunkelgrüne Bände der Deutschen Klassiker packt er ein. Bilanz: Den Schiller hat er mitgenommen, den Goethe hat er da gelassen!

Währenddessen erspäht ein rumänischer Schafhirte an einem frostigen Januarmorgen die Menschen im Wald, geht prompt ins Dorf und erzählt herum: Popa-i la pădure!

Dort ist es demnach auch nicht mehr sicher. Also wieder zurück ins Dorf! Die Kerze im Haus des Notärs brennt auch an diesem Abend. Der Kurator der Gemeinde holt das frisch verheiratete Paar kurzerhand ab und versteckt es in einem geheimen Hohlraum hinter dem Hasenstall.

Als die russischen Soldaten zusammen mit der rumänischen Polizei ins Dorf kommen, durchsuchen sie Hof für Hof, Haus für Haus. Ihre Hunde geraten in der Scheune des Kirchenkurators außer Rand und Band, reißen an den Lederriemen und bellen wie verrückt – wegen der Hasen, versteht sich!

Nach einigen Tagen ist der Spuk vorbei und der Notär muss keine Kerze mehr ins Fenster stellen. Im Dorf sind meist nur Kinder und ältere Menschen zurück geblieben sowie einige, die sich vor den Spürhunden verstecken konnten. Sie alle sind erfüllt von der hundertfachen Sorge um die Vielen, die gewaltsam weggeführt worden sind.

Immerhin, etwas Trost und Hoffnung gibt es: Die Alten sind froh, dass der sonntägliche Gottesdienst gesichert ist und die Verstorbenen auch weiterhin ein christliches Begräbnis erhalten werden. Die Kinder, einige durch Krieg oder Verschleppung verwaist, freuen sich, dass der Schulunterricht wieder losgeht, denn das Dorf hat nun eine Lehrerin.

Zwei Schwestern

Die ältere der beiden, Anfang 20, war auf der Deportationsliste ihres Heimatortes nahe Mediasch, lebte und arbeitete aber zu dieser Zeit in Bukarest. Die jüngere hielt sich noch zu Hause auf. Sie hatte eigentlich nichts zu befürchten, da sie noch nicht 18 war. Da aber die ältere Schwester nicht vor Ort war, als die russischen Soldaten ins Haus kamen um sie abzuholen, nahmen sie kurzerhand die jüngere mit. Zeitgleich stellte sich die ältere Schwester in Bukarest auch dem Aushebungsbefehl, um gerade zu vermeiden, dass ihre jüngere Schwester möglicherweise in Sippenhaft genommen wird. So landeten beide in sowjetischen Arbeitslagern, ohne dass all die Jahre die eine etwas von der anderen gewusst hätte. Erst nachdem der Alptraum vorbei war und sie endlich nach Hause durften, erfuhren sie, dass sie doppelt bezahlt hatten für etwas, was sie beide nicht verbrochen hatten. Und das nur, weil sie einen deutschen Namen trugen.

Jeder Ort in Siebenbürgen, jede Familie hat zu den „Aushebungen“ der Siebenbürger Sachsen im Januar 1945 ihre eigenen ergreifenden Erlebnisse und tragischen Schicksale zu verzeichnen. Jedoch vieles von dem, was die Menschen an Verfolgung, Leid und Entbehrungen in den Lagern und zu Hause erleben mussten, wurde vermutlich gar nicht erzählt, sondern lag Jahrzehnte fest verschlossen auf dem Grund der verletzten Seelen und ist schließlich mit ins Grab genommen worden. Hätten wir, die Nachgeborenen, uns mehr trauen und die Betroffenen nach ihren Erlebnissen fragen sollen?

Astrid K. Thal, Februar 2022

Die etwas anderen Weihnachtsgeschichten

Wie ich Weihnachten als Kind in Stolzenburg erlebt habe, kann man weiterhin unter „Traditionen“ auf der Internetseite unseres Fördervereins nachlesen .
Aber die Erinnerungen sind wie Tischtennisbälle im Wasserbad, sie ploppen immer wieder hoch und das Gedächtnis fördert ständig längst Vergessenes zu Tage:

An Heiligabend gab es zum Mittagessen bei uns daheim immer Gechwoichpert. Das ist – vereinfacht gesagt – eine Suppe aus Sauerkrautsaft, Gech genannt, mit darin eingeweichten gerösteten, harten Brotwürfeln. Iiiiiih. Von Wurst oder Fleisch – jedenfalls bei uns – keine Spur. Dann lieber hungern als Gechwoichpert essen!
Deshalb geschwind weiter zum Heiligabend selbst, und zwar in die brechend volle, stockfinstere Kirche, deren jahrhundertealte hölzerne Emporen unter der Last der Menschenmassen ächzen. Nach und nach, mit jeder einzelnen Kerze, die die Bräute mit langen Stangen aus luftiger Höhe am Tannenbaum entzünden, wird es im Gotteshaus hell und heller, das Raunen der Vielen verstummt und ich höre meinen Vater, den Härr Fårr, von der Kanzel mit lauter Stimme verkünden:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Zuhause angekommen, zündet meine Mutter dann neben den vielen weißen Kerzen am Baum auch eine blaue an und sagt dazu: „Das ist die Kerze der Auslanddeutschen“. –
Diese Tradition habe ich bis heute beibehalten. Eine blaue Kerze ist immer dabei.
Die Stiefelchen, die ich mir als 11jährige zu Weihnachten gewünscht hatte, waren im Amtszimmer im Aktenschrank versteckt. Aber ich hatte sie gefunden und auch schon anprobiert. Ja, sie passten, aber danach hatte ich ein schlechtes Gewissen und ein Problem: Ich musste unterm Weihnachtsbaum so tun, als ob ich überrascht sei… Und die Strafe von oben folgte auf dem Fuße: Am 1. Weihnachtstag, anstatt mit den anderen zum Gottesdienst zu gehen, nahm ich meinen Schlitten und ging in den neuen Stiefeln auf die Rodelbahn. Bald waren sie durchnässt und zu Hause hängte ich sie zum Trocknen an den Kachelofen. Leider zu nahe heran, die Hitze versengte sie und machte sie unbrauchbar.

Spuren im Schnee

Ich erinnere mich: In jedem Jahr pflegte die Blasmusik dem Burghüter und dem Pfarrer am 1. Weihnachtstag (wahlweise auch an Neujahr) frühmorgens ein Ständchen zu spielen.
Ich war ausnahmsweise früh wach und sah hinaus auf den über Nacht gefallenen Schnee. Plötzlich war Bewegung im noch dunklen Hof: Die Adjuvanten, sechs, sieben Mann, stapften im Gänsemarsch lautlos durch den tiefen Schnee, von der Burg kommend durch unseren Garten und in den Hof. Ich rannte zu meinem Vater und weckte ihn. Er zog sich schnell was über, nahm die Schnapsflasche und ein paar Stamperl und hastete hinaus, um die alljährliche Ehrbezeigung entgegenzunehmen: Da war aber keiner!? Keine Menschenseele. Mein Vater dachte, ich hätte ihn in den April geschickt, doch da war diese verräterische Spur im Schnee, die führte quer durch den Hof zum Gassentürl hinaus auf die Straße. Die Musikanten hatten diesmal offensichtlich keine Lust gehabt oder es war ihnen zu kalt gewesen, ihre Instrumente noch einmal auszupacken. Beim Burghüter war nämlich bereits ausreichend musiziert und ‚getankt‘ worden. Und schließlich musste bis zum Festgottesdienst um 11 Uhr noch ein kleiner Rausch ausgeschlafen werden!

Weihnachten in der Verbannung

Die Russland-Deportationen der Siebenbürger Sachsen vom Januar 1945, von vielen Zeitzeugen und Betroffenen mehrfach beeindruckend dokumentiert, sind auch nach 75 Jahren ein unvergessenes Trauma für unsere Landsleute geblieben.
Wer genügend Geld hatte, ließ seine halberwachsene Tochter Anfang Januar 1945 im Krankenhaus am Blinddarm not-operieren oder verheiratete sie schnellstens mit einem vertrauenswürdigen Rumänen, um nicht durch den deutschen Namen auf die „Liste“ für die Russland-Deportationen, auch Aushebungen genannt, zu kommen.

Manche jungen Männer hingegen schnallten in diesen Tagen des Januar 1945 ihre Schi und einen Rucksack voll mit Proviant auf den Rücken und gingen für ein paar Tage in die Berge, in der Hoffnung, so der „Reise“ nach Sibirien zu entkommen. Allerdings erfuhr einer von ihnen, dass seine verwitwete Mutter täglich aufs Polizeirevier zitiert und stundenlang über den Verbleib ihres Sohnes verhört wurde. Deshalb begab er sich schnellstens wieder nach Hause, reihte sich – gerade mal 18jährig – in die lange Kolonne am Bahnhof ein und stieg mit den anderen Sachsen in den kalten Viehwaggon. –
Dieses Thema hat übrigens Erwin Wittstock in seinem 1998 posthum erschienenen Buch “Januar ‘45 oder die höhere Pflicht“ sehr realistisch und ausführlich behandelt.

So denke ich beim Schein der blauen Kerze zuweilen auch an die, die nach dem Krieg mehrere Weihnachten in der sibirischen Steppe verbringen mussten, ohne ihre Familie, ohne selbstgebackenes frisches Brot, Bratwurst oder Hanklich. Sie durften sich auf die dünne Krautsuppe stürzen, wenn ein Landsmann oder gar Nachbar in vertrauter Mundart rief: Stermt ei erba, ba‘t Kretch! (Stürmt herbei zum Kraut!). Ihre Namen stehen alle in unserem Stolzenburger Heimatbuch. Die Namen derer, die heimkamen und die Namen derer, die es nicht schafften. –

Einer, der es nach mehreren gescheiterten Fluchtversuchen geschafft hatte, war ein 25jähriger Hermannstädter. Er war kurz zuvor in Russland an einer Niere stümperhaft operiert worden und stand 1951 krank und schwach und unschlüssig auf dem Bahnhofsvorplatz seiner Heimatstadt. Er hatte kein Geld für die Straßenbahn und wusste auch gar nicht, wohin. Wohnten die Mutter und Schwester noch dort, wo sie 1945 gewohnt hatten? Schließlich wandte er sich an einen Mann, der seinem Äußeren und seiner Kleidung nach ein sächsischer Landsmann zu sein schien: Ob er ihm vielleicht 30 Bani für die Straßenbahn leihen könnte? Dieser fragte, wo er denn hin wolle. Der junge Russlandheimkehrer nannte ihm den Namen seiner Mutter. Der Martinsberger lachte: So ein Zufall, genau zu dieser Frau B. muss ich, unsere Frau Pfarrerin bat mich nämlich, ihrer Mutter ein paar Sachen zu überbringen. Kommen Sie nur mit mir!

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…

In Martinsberg lebte in der Kriegs- und Nachkriegszeit eine Frau mit besonderen Eigenschaften. Sie sagte nicht die Zukunft voraus, aber sie konnte anhand des Fotos von einer Person sagen, ob diese noch lebte oder nicht. Zu ihr gingen daher Menschen, um etwas über ihre verschleppten, verschollenen oder kriegsgefangenen Verwandten zu erfahren. Zwei junge Frauen wollten leichtsinnig die Hellseherin auf die Probe stellen und zeigten ihr das Foto eines angeblich verschollenen Verwandten. Die Frau sah sich das Bild lange an und entgegnete: Sie wissen doch selbst, dass er lebt, warum kommen Sie zu mir?

Diejenigen, die nicht nach Russland gehen mussten oder für einige Tage erfolgreich von der Bildfläche verschwanden, konnten auch Einiges über die neuen Herren im Lande berichten, Schlimmes und weniger Schlimmes. Manchmal hätte man darüber fast schmunzeln können, wenn einem nach Lachen zumute gewesen wäre: Die Besatzer hatten es vor allem auf ganz bestimmte Gebrauchsgegenstände – oder soll ich sagen Luxusgegenstände? – abgesehen. Wenn man Pech hatte, konnte es nämlich am helllichten Tage auf offener Straße passieren, dass einer dieser Uniformierten einen Passanten anhielt und ihn im Befehlston aufforderte: Ceas! Tschaß! Da blieb dem Betroffenen nichts anderes übrig, als die wertvolle, in der Studentenzeit zusammengesparte Armbanduhr herzugeben, um nur schnell weiter seines Weges gehen zu dürfen. Kam man einen Tag später wieder über den Marktplatz geschlendert, stand da ein Mann, der eine Armbanduhr zu verkaufen hatte. O Wunder, es war ja die eigene! Na, dann schnell die Geldscheine gezückt, die eh bald nichts mehr wert sein sollten und die eigene Uhr zurückgekauft!

Das Beste kommt zum Schluss

Passend zur Weihnachtszeit darf ich euch nun, mit freundlicher Genehmigung ihrer Tochter, ein Gedicht unserer ehemaligen Lehrerin Gertrut Guni vorstellen, das sie Stolzenburg gewidmet hat. Als sie das Gedicht in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb, wohnte sie als junge Lehrkraft im alten (kleinen) Schulgebäude am Bach („Graben“), gleich neben der Kirche.

Stolzenburg

Der Orion erstrahlt in hehrer Pracht,
stumm zieht er an dem Himmelsrund hinan.
Nun wird es eine kalte, klare Nacht;
Der Graben auch erstarrt in ihrem Bann.

Am Brunnen klingt ein blechernes Geräusch,
das Rad knarrt rascher, leiser dann und schweigt.
Die Sterne alle kalt und klar und keusch,
sie lauschen, wie die Stille staunt und steigt.

Die Kirche ragt in weißem, weißem Schnee
tief einsam in die weihnachtliche Nacht:
so strenge, dass sie jedes kleine Weh
in ihrer Klarheit stumm und ernst verlacht.

Ich aber selbst will lachen nimmer nun!
Die Toten werden alle mir bewusst.
Ich will mich müh‘n und meine Arbeit tun
Streng zu mir selbst – in ernster Arbeitslust.

Spät hab ich noch die Tore zugemacht –
Der letzte Ton verstummte und verrann.
Der Orion erstrahlt in hehrer Pracht,
stumm zieht er an dem Himmelsrund hinan.
(Gertrut Guni)

Ich wünsche allen glückliche Feiertage und ein gesundes Jahr 2022!

Astrid K. Thal, im Dezember 2021

Allerheiligen, Allerseelen, 9. November, Volkstrauertag, Buß-und Bettag, Totensonntag

Der Monat November hat es in sich: Ein Gedenktag nach dem anderen. Nebel und November-Blues kommen dazu. Und Corona.
Was den katholischen Christen Allerheiligen ist den evangelischen Gläubigen der Totensonntag.
Es ist also nicht verwunderlich, dass einem zurzeit viele Gedanken durch den Kopf gehen über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges.
Dabei hat – jedenfalls in meinem Alter – Vergangenes die Oberhand: Erinnerungen an die Menschen auf meinem Lebensweg, Zufriedenheit über Erreichtes und Bedauern über Versäumtes und Unterlassenes.
Gegenwärtiges ist mal mehr, mal weniger aufregend, verpflichtet aber zu ganz viel Dankbarkeit und Demut.
Hingegen was die Zukunft anbelangt, könnte ich mich (eigentlich) zurücklehnen, ich sitze schließlich nicht mehr in der ersten Reihe, es gibt nur noch Weniges zu besorgen und zu entscheiden. Höchstens tapfer durchhalten, aufräumen und Ordnung schaffen. Denn wer weiß, wann sich die Tür für immer schließt? Wie hieß es in Stolzenburg doch so sachlich nüchtern: Die Jungen können, die Alten müssen (gehen). Wollte man jedoch die jungen Leute zur Vorsicht ermahnen, drehte man den Spruch einfach um: Die Alten müssen, aber auch die Jungen können.
Glaubte man, einen alten Menschen mit der Bemerkung aufmuntern zu können: „So alt seid Ihr doch noch nicht“, erhielt man zur Antwort: „Nein, alt bin ich nicht, nur seit langem (auf dieser Welt)!“ „Ich bän net auld, ich bän nor leonghär!“
Auch bei Plänen für die Zukunft gingen unsere Altvorderen von jeher mit Bedacht um. Sie sagten nicht einfach „Ich werde..“ oder „Ich will…“, sondern legten ihr Wünschen und Hoffen in eine andere, sicherere Hand:
„Aufs Jahr, wenn unser Herrgott hilft (1), dass wir leben (2) und gesund sind (3), dann werden wir…“.
Und wie wichtig es war, dass die gesamte Familie wohlbehalten und zusammenbleibt, zeigte sich bereits in einem von alters her festgelegten Wunsch für das Neugeborene, das „Würmchen“: „Auser Härrgäot erhault däot kloin Wiërmchen, and schink em de Gesantchhoit, uch sengen Ǻldjern uch Gruißåldjern, damät se et än der Forcht Gottes gruiß meijen zahn…“. –

Allerdings wurde nicht nur auf den helfenden, beschützenden Gott vertraut. Ganz selten kam es vor, dass der strafende Gott des Alten Testaments bemüht wurde, wenn jemanden vermeintlich „verdient“ ein Schicksalsschlag ereilte. Dann fiel das Urteil über ihn erbarmungslos, allerdings meist nur hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton: „Auser Härgäott schloit net mät dem Kläppel!“

Zurück zum November: Neben den Anlässen zum ehrenden Gedenken gibt es auch einiges zu bedenken, zum Beispiel: Wo will ich eigentlich einmal begraben werden? Darf ich mir das aussuchen oder soll ich es wegen der Kinder nicht unnötig kompliziert machen und den Dingen einfach ihren Lauf lassen? Der Vater hat in der Rhön seine letzte Ruhe gefunden. Wobei „letzte Ruhe“ hierzulande nicht gleichbedeutend mit „ewiger Ruhe“ ist…
Und die Mutter liegt fernab am Fuße der Karpaten in dem Weberstädtchen, wo früher die meisten Leute Bonfert hießen. Das wäre beste Lage mit herrlicher Aussicht auf die blauen Berge. Und Platz auf der Marmortafel ist auch noch für meinen Namen. Gesonderte Bibelstelle brauch ich nicht, die meiner Mutter gefällt mir: Zephania 3.17 a. Dann noch zwei Jahreszahlen. Und der kleine Bindestrich dazwischen steht dann für mein ganzes Leben!

Wenn ich mir jedoch die Bilder vom Stolzenburger Friedhof, åf der Sånnsetch, ansehe, dann bin ich hin und her gerissen.
Dort oben auf der Sonnenseite habe ich nämlich alles im Blick: Das Haus, in dem ich aufwuchs, die Kirche, in der jetzt die Orgel fehlt, die deutsche evangelische Schule erbaut um 1910 während der Amtszeit von Pfarrer Johann Plattner, dahinter das Predigerhaus. Garten und Schulhof nicht zu vergessen, die im Winter die beste Rodelbahn abgaben.
Über all dem thront die Burg mit Speck- und mächtigem Glockenturm, auf dessen Dach wie „angepickt“ das kleine Türmchen sitzt! Von hier oben wünschte der Burghüter alljährlich in der Silvesternacht genau um 00:00 Uhr mit leicht verwischter Stimme in zwei Sprachen „Gäde Morjen“ und „En Gläcklich nau Gîăhr“, während die Fackeln aus den vier Fenstern in alle Himmelsrichtungen leuchtende Kreise schwangen.
Es würde mir auch gar nichts ausmachen, wenn Kühe und Schafe über mich hinweggehen und als eine Art Gruß etwas hinterlassen, das die weißen Blumen auf den hohen Stängeln noch üppiger blühen und in den Himmel wachsen lässt! Und da ich ein einfach gestricktes Gemüt bin, wünsche ich mir Blasmusik und die Melodie von „Näher, mein Gott zu dir“.

Astrid K. Thal, im November 2021

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Anmerkung: Da es sich hier um Erinnerungen handelt, kann es sein, dass die geschilderten Abläufe und Bezeichnungen nicht immer genau stimmen. Das macht aber gar nichts, ganz im gestelltGegenteil, so werden die betreffenden Stellen von den geschätzten Lesern im Gespräch miteinander erörtert, ggf. richtig , ergänzt, vor allem aber ERINNERT! Ebenfalls freue ich mich über Anregungen und kritische Rückmeldungen zu meinen Beträgen. Es sei übrigens allen gedankt, die mir bei der Beantwortung von kniffligen Fragen geholfen haben.

Äm Auren – Erntezeit

Der Monat Juli heißt im Rumänischen sehr treffend Luna Cuptor, der Monat des Backofens. Das ist die Zeit der Getreideernte, wenn die Luft vor Hitze flimmert und der Wiesenthymian an den Hängen seinen unverwechselbaren Duft freigibt. Bevor die Mähmaschinen ihre Arbeit aufnehmen, schneiden ein paar Frauen und Mädchen die schönsten Ähren ab, tragen sie in Garben nach Hause und lagern sie trocken bis zum großen Fest im Herbst.

Äm Harwest – De Ändauch – Erntedankfest

Das Erntedankfest wurde in Siebenbürgen etwas später als hier und heute begangen, nämlich erst wenn annähernd die gesamte Ernte eingebracht war. Es ist die Zeit der Eintage, in Stolzenburg Ändauch genannt, wenn die Tage kürzer und die Nächte frostig werden.
Die Ährenkränze, ca. ein Meter hoch und herzförmig, waren zwischenzeitlich bereits fertig und am Samstag vor dem Fest wurden auch die Astern zu zwei ebenso großen Blumenkränzen gebunden.
Je zwei konfirmierte Mädchen der Alt- und der Jungschwesternschaft (Auldmeid und Gång-Auldmeid) trugen diese beeindruckenden Gebinde am Erntedanksonntag unter den neugierigen Blicken der gesamten Gemeinde in die Kirche, wo sie, die Kränze, erst auf dem Altar niedergelegt und später an den Emporen beidseits des Altars aufgehängt wurden.
Auf den Stufen des Altars jedoch wurden dem, der Frühling und Sommer über ausreichend Sonne und Regen geschickt hatte, die herrlichsten Früchte dargebracht: Es türmten sich hier die größten Äpfel, Birnen, Trauben, Kartoffeln, Maiskolben, Rüben und Kürbisse. Der Choral „Nun danket alle Gott“ drückte aus, was alle empfanden!

Erntedank in Stolzenburg

Mit freundlicher Genehmigung von G.K., aus Kirchen- und Festtracht in Stolzenburg, O. Rothbächer u. E. Kanz, 2009

Wie alle Christen an diesem Tag danke sagen, so will ich das heute auch tun. Zuerst einmal meiner Familie, sowohl den lieben Vorausgegangenen als auch Mann, Kindern, Schwieger- und Enkelkindern dafür, dass sie mich an ihrem Leben teilhaben lassen und mir so viel Freude bereiten. Ich danke unserem Herrgott, dass er sie bis zum heutigen Tage behütet hat und bete, dass er es auch weiterhin tun möge.
Der lieben Nachbarn gedenke ich, bei denen man sich jederzeit und unangemeldet Rat und Hilfe holen oder einfach nur auf ein offenes Ohr hoffen konnte.
Da wäre die eine Nachbarin etwa, die „mit den geschickten Händen“, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Ihr konnte ich stundenlang bei der Arbeit an der Nähmaschine zuschauen, während im kleinen, alten Vorkriegsradio Schlagermusik und die sonore Stimme von Dieter Thomas Heck zu hören waren. Aber leise nur, um Biancas Bellen draußen im Hof nicht zu verpassen, wenn sie anschlug und zuverlässig einen fremden Besucher meldete. Wenn sie die Leute kannte, die den Hof betraten, ließ sie sich beim Dösen im Schatten erst gar nicht stören, die intelligente Hündin. Einmal war sie fort und kam erst nach Monaten wieder. Dann war sie wieder einmal abgehauen und kam – leider – nie wieder.

Hanklich, Feongkich uch Kråppen

Schon als Kind habe ich beim Hanklich backen der Nachbarn „mitgeholfen“. Mit sauber gewaschenen Händen durften wir Kinder die Eier mit der warmen Butter auf dem Teig verrühren, bis der Belag, ähnlich der Mayonnaise, fest wurde. Viele Jahre später konnte ich einer Bekannten aus der Obergasse über die Schulter schauen, wie sie dieses herrliche Gebäck herstellte, das eigentlich so einfach aussieht und doch so viel Können erfordert. DANKE!
Das Rezept der Zimtkrapfen (hier Schneebälle genannt, aber viel besser als diese!) habe ich einer Nachbarin oberhalb der Staatsschule zu verdanken. Heute noch bewahre ich ein „Model“ von ihr aus Papier auf, das zeigt, wie der dünne Nudelteig mit dem Radel geschnitten und die Streifen ineinander verflochten werden, um beim Backen im heißen Öl die Form einer Blüte zu ergeben. Diese „Kråppen“ wurden gewöhnlich Wöchnerinnen gebracht, da sie zum Unterschied von Hefegebäck bekömmlicher sind. DANKE!

Achtung, Kinderarbeit!

Im Frühjahr war ich beim „Goirken“ im Staats-Wengert dabei. Die Frauen schnitten die Reben zurecht, wir Kinder, 12 – 15jährig, banden sie mit Bast am Spalier an. Auch die „Grüne Arbeit“ im Sommer habe ich als Tagelöhnerin verrichtet: Die Achseltriebe wurden ausgebrochen und die zu langen Reben zurückgestutzt. DANKE an die Frauen, die es mir geduldig beigebracht haben und mir halfen, wenn ich mal müde wurde.
Ein 10-Stunden-Tag war zwar anstrengend, es erfüllte mich jedoch mit Stolz, selbst Geld zu verdienen. Es hieß jeden Morgen früh aufstehen, den Rucksack mit Proviant für den ganzen Tag packen (die Eltern schliefen noch). Den Schoifhuet und die Wasserflasche nicht vergessen! Kinderarbeit auf Siebenbürgisch halt…

Wie kann ich meine Freude beschreiben, wenn wir zur Lese in den Weinberg der Kollektivwirtschaft eingeladen wurden? Dort bedachte uns eine fleißige Winzerin mit den schönsten Trauben der Rebsorten Riesling, Muskateller und Mädchentraube. DANKE!

Herbststimmung im Weinberg

Großer Waschtag

Zuschauen durfte ich den Nachbarn auch beim „Bechen“ im Hof: Was war das aufregend für uns Kinder und eine Heidenarbeit für die Erwachsenen, vor allem die Frauen. Am ersten Tag wurde die meist handgewebte Wäsche in einem Schaff oder einer Bütt unter mittelbarer Zugabe von Asche eingeweicht und immer wieder mit heißem Wasser übergossen. Am zweiten Tag wurde sie in Wannen aus Holz oder Blech mit selbst hergestellter Seife in Regenwasser vorgewaschen und anschließend am Herd mit Waschsoda gekocht. Danach wurde jedes Teil einzeln auf einer eigens dafür angefertigten erhöhten Bank mit einem Holzbrettchen, dem „Blauen“, geklopft und von allen Seiten bearbeitet. Schließlich wurden die Wäschestücke im kalten Brunnenwasser gespült (geflaut), mit den bloßen Händen ausgewrungen (bei großen Wäschestücken erledigte man das „Aisbrinzen“ am besten zu zweit) und auf langen Leinen im Hof zum Trocknen aufgehängt. Ich muss nicht erwähnen, wie an frischer Luft getrocknete Wäsche duftet! Und um das Weiß der Gewebe noch mehr zum Strahlen zu bringen, wurde beim letzten Spülgang Wäscheblau zugegeben. Nicht zu verwechseln mit Haumichblau .
Ein anstrengender Tag ging zu Ende: Mer hun broit! Zu Neudeutsch: Ich habe fertig! DANKE für das Dabeisein!

Deine Mutter ruft!

„Schicken Sie doch das Kind heim!“ bat „Haurz Frä Fårrerän“ wiederholt unsere Nachbarin, wenn ich die Zeit und das Nachhause gehen vor lauter Para- und Völkerballspielen vergaß. Oft rief sie von der obersten Treppe des Pfarrhauses über Hof, Bach und Straße laut und gedehnt „Astrüüüüüüd“! Die Nachbars-Groisi sagte dann sanft mahnend zu mir: „Deine Mutter ruft dich!“ Ich tat, als ob ich beides nicht gehört hätte und es wurde auch wieder spät und dunkel. Was gäbe ich heute dafür, meine Mutter noch einmal meinen Namen rufen zu hören.
Weit war der Heimweg zwar nicht, aber es ging über eine viel befahrene Landstraße, dann über die Fårreschbräck im Dunkeln zum Hoftor. Einmal hörte ich ein paar Jungen im Hohlweg, der zur Burg führte, hinter mir her rufen: „iepuroaica popii“! Auch wenn dies eigentlich harmlos war, erschreckte mich dieser Vorfall sehr. Deshalb war die gute Nachbarin, die selbst drei Enkeltöchter hatte, immer bereit, mich am Abend zu begleiten und so lange zu warten, bis „des Pfarrers Häschen“ sicher zu Hause angekommen war. DANKE!

Jahrzehnte später, im August 1992, war es für mich selbstverständlich, die Groisi auf ihrem allerletzten Weg auch heim zu begleiten. –

Meine Mutter hingegen rügte mich oft: „Schämst du dich denn nicht, immer bei den Nachbarn mitzuessen?“ Nein, nicht die Bohne.

Apropos Bohnen: Die liebte ich am meisten: Geriebene Bohnen mit Geriestzel (geröstete Zwiebeln) und Kampest. Ein Platz am Tisch in der engen Sommerküche wurde durch Zusammenrücken immer frei für mich. Wenn ich nämlich meine Nachbarn – rein zufällig, versteht sich – beim Essen antraf, hieß es prophezeiend und sachlich von Seiten der Grois: „Astrid, du bekommst einmal eine dicke Schwiegermutter!“
Ja, wir haben alle miteinander in eine große Schüssel getunkt. Das verbindet fürs Leben.

Lele Frosina

Ich stelle fest, ich habe so vielen verschiedenen Menschen zu danken! Wenn zum Beispiel Lele Frosina in unserem Hof auftauchte, hüpfte mein Herz vor Freude, denn dann gab es mindestens einen Teller voll Walderdbeeren. Und das Mittagessen stand auch schon fest: Tokana von Pfifferlingen (urechiuşi) oder von Schwämmchen, auch ciuciuleţi genannt. Auch wenn vorher mit Lele Frosina noch über den Preis verhandelt wurde. Vielleicht mussten noch ein weiteres Paar Schuhe oder gar ein alter Mantel drauf gelegt werden, bis beide Parteien zufrieden waren?

Wenn ich heute, viele Jahrzehnte später, den unverwechselbaren Duft von Walderdbeeren oder Pilzen wahrnehme, verbinde ich ihn immer mit der alten, gebückten aber freundlichen Frau mit dem faltigen Gesicht, die mit ihrem Körbchen unterm Arm einem Grimms Märchen entstiegen zu sein schien. DANKE Lele Frosina!
Einmal waren wir mit den Nachbarskindern auf dem „Reich“, der Hochebene hinter dem Kopen und haben selbst Wiesenchampignons gesammelt. Danach haben wir sie zu Hause mit Speck auf der Herdplatte gebraten. Heißen sie Dreschlengk?

Sonntage

Die Langeweile an Sonntagnachmittagen wurde manchmal dadurch unterbrochen, dass ein Traktor mit Remorc (Anhänger) oder ein Lastauto uns zu den Badeseen nach Salzburg mitnahm. Die Badesachen waren schnell gepackt und die Eltern fragten höchstens, ob auch Erwachsene mitfuhren, kümmerten sich ansonsten nicht weiter darum, wer der Fahrer war oder ob er ein oder zwei Bier schon intus hatte!

Ganz selten kam auch ein Eismann aus der Stadt mit seinem Wägelchen ins Dorf. Dann war schnell irgendwo ein Leu oder zwei organisiert, aus der Jackentasche des Vaters oder von dem bisschen Taschengeld, das man sich hart erarbeitet hatte. Denn die Mutter durfte auf keinen Fall gestört werden, die hielt einmal in der Woche Mittagsschlaf.

Wenn keine dieser Unternehmungen möglich waren, ging man sonntags auf der Reußner Straße bzw. „än de Raißner Kiëll“ spazieren: Sehen und gesehen werden, sozusagen. War auch dies wegen schlechten Wetters nicht möglich, saß ich bei den Nachbarskindern mit deren Großmutter und Urgroßmutter in der Fädderstuww am Fenster und wir beobachteten die Leute, die auf der Straße vorbei gingen. Später holten wir den Schuhkarton mit den alten Fotos heraus, auf denen die Groisi nicht mehr alt sondern ein blutjunges Mädchen war. Zusammen mit ihren drei Schwestern: Ich konnte mich nie entscheiden, welche die schönere war. Danke auch für diese Zeit!

Die hohe Kunst des Bügelns

Meine Mutter lag 1974 operiert im Krankenhaus und ich war in den Semesterferien zu Hause, haushaltstechnisch jedoch weder interessiert noch besonders bewandert. Ich wurde beauftragt, ihr mit einer Stolzenburgerin aus der Postgasse, die im Krankenhaus in Hermannstadt arbeitete, frische Wäsche zu schicken. Das tat ich gehorsam. Meine Mutter schickte mir diese postwendend zurück und die Überbringerin erklärte trocken: „Deine Mutter hat gesagt, du sollst die Nachthemden ordentlicher bügeln. Dann erst nehm ich sie wieder mit.“ Auch hierfür DANKE!

Wen habe ich vergessen?

Ich danke den Menschen, die an meiner Seite waren, als ich klein war und die Mutter nicht nur Vormittags Unterricht hatte, sondern ganze Nachmittage bis in die Abendstunden hinein von Haus zu Haus gehend „munca de lămurire“ bei den Bauern leisten musste. Letztere weigerten sich nämlich, mit ihrem Grund und Boden in die Kollektivwirtschaft einzutreten. Bezeichnenderweise waren es die Rumänen, die am längsten Widerstand leisteten. Diese „Überzeugungsarbeit“ ging über Monate, sogar Jahre, bis auch der letzte und störrischste Bauer JA gesagt hatte zum Kommunismus.
Dann wären da die liebenswürdigen Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen. Ich erinnere mich an den 1. Schultag: Unsere Lehrerin erzählte uns eine Geschichte von einem Kind, das in ein Storchennest steigt, dort einschläft und den Schulanfang verpasst. Oder so ähnlich. War es Heiner im Storchennest? Auch ein Rätsel war aufzulösen, ich meldete mich vorschnell, und lag dann mit meiner Antwort komplett falsch! Allerdings den schönsten und dicksten Apfel aus unserem Garten erhielt stets meine „Genossin Lehrerin“!

In meinem Schreibheft waren die blauen Häkchen aber häufiger als die begehrten roten, die man für Schönschrift bekam. Wie schwer sich eine siebenjährige Linkshänderin mit dem RECHTS-Schreiben tat, kann man sich denken. Wahrscheinlich war es meine ordnungsliebende Mutter, die mich anhielt, das Schreiben mit Rechts zu erlernen. Dabei hätten wir beide es viel leichter haben können. Nun, man sieht, früher war doch nicht alles besser!
Ich erinnere mich, dass wir im Erdkundeunterricht in der 3. Klasse „åf de Burch“ gingen um die Himmelsrichtungen zu erlernen: Nase nach Norden Richtung Oirschenhoift und Kopen, rechter ausgestreckter Arm zeigt nach Osten, in Richtung der rumänischen Kirche etwa oder der Obergasse. Im Rücken ist der Süden: Glockenturm, Burg, Krähebrännchen, weiter hinten das Zeiklereich (Zakelsberg) und ganz weit weg Hermannstadt. Der linke Arm weist nach Westen: Niedergasse, Leokebrånnen, Gorgan, Sonnenuntergang. Danke an die hochgewachsene, dunkelhaarige und sanfte Lehrerin!
Anerkennung und Respekt zolle ich auch den beiden jungen Lehrerinnen für Deutsch und rumänische Geschichte, die, trotz kleiner Kinder zu Hause, sich die Zeit nahmen, der Achtklässlerin „Nachhilfe“ für die Aufnahmeprüfung ins Lyzeum zu geben. DANKE!

Die guten Seelen seien hier auch erwähnt, die meiner Mutter im Laufe der Jahre bei der Hausarbeit halfen. Sie waren alle alleinerziehend (Witwen bzw. Kriegswitwen) und arbeiteten zusätzlich noch in der Kollektivwirtschaft, um ihren Kindern eine gute Ausbildung und Zukunft zu ermöglichen. Hut ab, sag ich nur. Und: DANKE!

Die Krankenschwester – sie könnte glatt Maria Magdalena heißen, so wie sie den Menschen im Dorf unermüdlich beigestanden hat – gehörte zu den Menschen, die mehr getan haben, als es ihre Pflicht war. Nicht zu vergessen die gute Freundin aus der Anglergasse ganz oben, immer rührig und auf Achse trotz ihres Alters, die der Mutter in den schweren Monaten und Wochen ihrer Krankheit zur Seite stand. Unbedingt zu erwähnen sei die liebe Nachbarin, die in Mutters letzter Stunde bei ihr war. DANKE.

Auch den geduldigen Kinderfrauen meiner Tochter bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die Kleine fühlte sich immer wohl bei ihnen, auch wenn sie doch gute Argumente gegen meine Berufstätigkeit hatte: „Mutti, nemi gongk än de Schil, bleiw derhim und back Kaltiten! Wer hält dich åf?“

Entbehrungsreich und gleichzeitig ein Paradies?

Meine Kinder wundern sich, wenn ich erzähle, dass wir unsere Kleidung beim Schneider bzw. der Schneiderin anfertigen ließen. Warum wohl? Weil es zu der Zeit kaum Konfektionsware zu kaufen gab oder aber diese zu teuer war.

Auch staunt man darüber, dass es im Pfarrhaus fast in jedem Raum einen Kachelofen gab. Diese – zum Unterschied von den üblichen Kanonenöfen – speicherten in den überaus großen und hohen Räumen die Wärme eben länger.

Dass uns die Milch in einem „Henkelmann“ täglich nach Hause gebracht wurde, nun, zugegeben, das war Luxus!

Rückblickend betrachtet waren diese Zeiten ziemlich entbehrungsreich, karg und die Ressourcen immer knapp bemessen. Jedenfalls in meinem Elternhaus. Wir Kinder bekamen auch Spannungen, dramatische und tragische Vorkommnisse in der Gemeinde mit, auch wenn man, die Fotos von früher betrachtend, gern geneigt ist, die Vergangenheit zu vergolden und von einer unbeschwerten Kindheit zu schwärmen. Für mich persönlich war bereits der Schulalltag nicht selten mit Spott, Neid und Häme verbunden, aber ich habe es überlebt. Wie sagt der Rumäne? Am iertat, dar n-am uitat. Ich habe verziehen, aber ich habe nicht vergessen. –

Andererseits war unser Dorf damals, in meiner Kindheit, ein Fleckchen Erde, wo die Haustüren offen standen für (fast) jeden. Nur nachts wurden sie abgeschlossen. Und wo Friedhöfe für die Ewigkeit angelegt wurden und die lieben Toten dort auf ihre Auferstehung warten durften. Man musste nicht befürchten, dass die Grabstellen nach zwanzig Jahren dem Erdboden gleich gemacht werden, weil man es versäumt hatte, den Vertrag zu verlängern. Ein Vertrag für die Ewigkeit eben! Und die Zusammenkunft der Trauernden nach einer Beerdigung wurde nicht herzlos „Leichenschmaus“, sondern sanft „Lechzoichen“ oder noch tröstlicher „Tränenbrot“ genannt.

Auf Hochzeiten und Taufen war man willkommener Gast und wurde ermutigt mit der scherzhaften Aufforderung: „Esst, nicht leidet Hunger wie daheim!“ Achtung, Komma richtig setzen!

Wenn man satt war und gar nicht mehr weiter essen konnte, hörte man etwa die Gastgeberin fragen: „Na, habt Ihr Euch denn schon geärgert?“ Tückisch war allerdings das immer volle Weinglas: Es wurde nämlich ständig nachgefüllt, schon bevor es halb leer war. Da konnte man mit dem Zählen leicht durcheinander kommen. Und zum Schluss wurde man noch mit Hanklich und Gugelhupf für die Daheimgebliebenen beschenkt und den Worten verabschiedet: „Wir danken Euch, dass Ihr uns nicht verschätzt (verschmäht) habt.“

Die Aufforderung „Esst nur, esst, was übrig bleibt, geben wir sowieso den Schweinen“ ist anderswo zu Hause, sicher nicht in Stolzenburg. Denn hier wurde Gastfreundschaft ganz groß geschrieben. DANKE, dass ich das miterleben durfte!

Wie viele Menschen habe ich hier nicht erwähnt! Sie mögen sich angesprochen fühlen: „Sen Se bedankt!“
Nicht zuletzt möchte ich nach gutem alten Brauch um Verzeihung bitten all die Menschen, die ich möglicherweise beleidigt oder gar verletzt haben sollte: „Verzauht, won ich mät äst gefeihlt hun“.

Wie viele gute Worte, Ratschläge und Segenswünsche, die unerwähnt bleiben und in Vergessenheit geraten werden. Das macht mir Sorgen. Und deshalb erinnere ich mich und schreibe es auf.

Astrid Karin Thal geb. Schneider, Oktober 2021

Schon gewusst…?

Die Stolzenburger waren auch schon früher sehr verantwortungsvoll.

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließen viele Stolzenburger sich und besonders ihre Kinder gegen die Kuhpocken impfen.

Foto mit dem Impfzertifikat.

Aus dem Buch; Die Gemeinde Stolzenburg in Siebenbürgen, 2020, S. 88-89. von Michael Hihn.

Verantwortung auf Stolzenburgerisch – Etwas Spaß gefällig?

Das Gebot der Stunde lautet zurzeit allerorts, sich unbedingt impfen zu lassen. Das ist vernünftig und verantwortungsbewusst. Wir Stolzenburger wissen das natürlich, denn nicht umsonst heißt Verantwortung in unserer originellen Mundart glatt Verimpferung!

Hun ich gesoht, ich wäll Pallokes?

Wir wissen es alle: die einen lieben sie, die andern hassen sie. Meine beiden Brüder machten da keine Ausnahme: Der eine aß sie gern. Sogar von den Nachbarn wurde er mit heißer Pallukes in kalter, frischer Kuhmilch verwöhnt. Der andere konnte sie nicht leiden und ging abends lieber hungrig ins Bett. Ihr habt es erraten: Es ist die Rede vom Maisbrei, neudeutsch auch Polenta genannt.
Wenn die vom Staat verordnete und festgelegte tägliche Brotration („auf Kartell“) wieder mal aufgebraucht war, stellte die Mutter gelegentlich Pallukes mit Milch zum Abendessen auf den Tisch. Nach einigem gutem Zureden war sie schließlich mit ihrer Geduld und ihrem pädagogischen Latein am Ende: Te esst na oder te bekist en Plaatsch! Du isst jetzt oder es gibt eine Ohrfeige! Mein Bruder überlegte nicht lange: Mutti, gäw mer läwer de Plaatsch!
Ein anderer Ort, eine andere Zeit, ein anderes Kind, vier, fünf Jahre alt, fragte im Hinblick auf diese sättigende Speise sehr höflich: Hun ich gesoht, ich wäll Pallokes???

Fastenzeit – Oder: Im Märzen der Bauer…

Ein rumänischer Bauer pflügte in den Wochen vor Ostern im Fårreschgäorten den Acker für die nächste Aussaat. Der Pfarrer brachte ihm die damals übliche Jause, einen Teller mit Schmalzbroten. Der Rumäne schaute den Pfarrer erstaunt an: „Ich darf doch kein Fettbrot essen, Herr Pfarrer, wir haben Fastenzeit! Da io nu mănînc de dulce, domnu părinte! E postul paştelui.“ Das allerdings hatte der evangelische Pfarrer vergessen: Dass manche orthodoxe Rumänen die sieben Wochen Fastenzeit vor Ostern sehr streng einhielten und sich während dieser Zeit vegetarisch (oder sogar vegan?) ernährten. Etwas beschämt zwar, aber auch gleich mit einer Lösung im Kopf lief der Härr Fårr zurück in die Küche und brachte dem braven Mann ein paar Marmeladenbrote. Na, dann: ‚Pofta buna!‘, guten Appetit!

Erinnerungen an die „Fra Fårrerän“:

Sie war nicht nur Pfarrersfrau, sie war auch Lehrerin. Ob sie zu ihren Schülern genau so streng wie zu ihren eigenen Kindern war? Sehr wahrscheinlich. Bei einem Schüler jedenfalls machte selbst sie einmal eine Ausnahme: Ein drolliger Erstklässler, neu- und wissbegierig, fragte seine Lehrerin eines Tages nach Schulschluss, ob sie ihm ihr Zuhause zeigen könnte. Auf die Gegenfrage: Warum? antwortete er einfach: Ich möchte sehen, wie Ihr‘s habt!
Eine Freundin erzählt aus ihrer Kindheit: „Als ich einmal krank war, brachte deine Mutter mir einen Pudding, den sie extra für mich zubereitet hatte! Es war ein besonderes Gefühl für mich als Kind, von ihr so beachtet und wichtig genommen zu werden!“
So oft es ihr möglich war, besuchte die Fra Fårrerän die Alten und Kranken der Gemeinde und brachte ihnen immer eine Kleinigkeit mit, mal eine Zitronencreme, mal Kekse mit Quittenkompott. Als sie, erst 52, dann selbst krank, unheilbar krank wurde, kamen die Menschen des Dorfes abwechselnd und brachten ihr leckere Speisen: „Ihr habt meine Eltern besucht, als sie krank waren, das habe ich Euch nicht vergessen“.

Alles Gute kommt von oben

Die konfirmierten Jungen, also die ‚Gruißknecht‘, hatten im Gottesdienst mehr Glück als die Mädchen, denn sie saßen nicht direkt unter den strengen Augen des Pfarrers und der Kirchenväter, sondern in luftiger Höhe auf den Emporen im Altarraum, åf dem Gleiter. Da konnten sie manch Schabernack treiben, außerdem – buchstäblich von oben herab – die konfirmierten Mädchen (die ‚Gruißmeid‘) beäugen und ungestört ihre Kommentare abgeben.
Als der Pfarrer dann im Verlauf des Gottesdienstes etwas heiser und wenig melodisch mit der Liturgie anfing, sagte einer der Jungen leise zu meinem Bruder: Pass åf, ei Paul, glech feit deng Väouter un ze jodeln! (Pass auf, gleich fängt dein Vater zu jodeln an!).
Von dort oben erhielt ich bei der Konfirmandenprüfung 1969 dann auch die rettende „Erleuchtung“ zu einer Frage des Pfarrers. Ich schaute hilfesuchend zur Empore hoch, mein Bruder gestikulierte heftig und zeigte auf sich selber. Ich verstand sofort und gab dem Pfarrer die richtige Antwort: „Apostel Paulus“!
Vom Pfarrer und den Presbytern wurde auch sofort bemerkt, wenn die „Jugend“ erst in allerletzter Minute zum Gottesdienst angelaufen kam: Na, wåt äs, Gerlinde, hut ihr gestern Owend wedder bäs spät gecheft? Na, habt ihr gestern wieder bis in die Nacht hinein gefeiert?

Astrid Karin Thal geb. Schneider, September 2021

Die Kette hat gehalten

Bild–Brunnen_Pfarrhof
Im Gespräch mit einer ehemaligen Nachbarin förderten wir eine Begebenheit zu Tage, bei der es mir heute noch, nach fast 60 Jahren, eiskalt den Rücken hinunter läuft:

Brunnen im Pfarrhof in Siebenbuergen

Maisspeicher aus Siebenbuergen

Bild—-Maisspeicher
Wie viele wissen, bot das Stolzenburger Pfarrhaus, der Hof und der Garten ideale Möglichkeiten zum Verstecken spielen:
In der Rumpelkammer oder auf dem geräumigen Dachboden, in der Scheune, im Stall, im Koschär (Futterspeicher), im Flieder- und weiter oben im Haselnusswäldchen, ganz zu schweigen vom großen Wald, der die Ostseite des Pfarrgartens begrenzte und ohne Zaun schließlich in den rumänischen Teil des Dorfes überging. Mein Bruder aber, etwa 15-16 Jahre alt, versteckte sich an einer Stelle im Hof, die nur er sich ausdenken konnte. Und er wurde von keinem der Kinder gefunden, bis er sich schließlich selber bemerkbar machte, vielleicht weil er sich nicht mehr festhalten konnte oder aus Angst vor seiner eigenen Courage.
Mein Bruder hatte Riesenglück: Denn was wäre gewesen, wenn die Eisenkette, an der der Schöpfeimer mehrmals täglich in den tiefen Brunnen hinunter gelassen wurde, nicht gehalten hätte? Das Abstützen mit den Beinen auf den bemoosten und glitschigen Steinen im Schacht hätte keinen rechten Halt bieten können. Nun, die Kette hielt und mein Bruder entstieg dem Brunnen, während die Nachbarskinder und ich staunend um ihn herum standen!
Was ich erst Jahrzehnte später erfuhr: Der Bruder unserer Stolzenburger Urgroßmutter soll als 13-Jähriger in einem Brunnen ertrunken sein. Ob er auch Verstecken gespielt hatte oder versehentlich hineingefallen war, ist nicht bekannt.

Astrid Karin Thal geb. Schneider, August 2021

Mein Bruder, der Witzbold. Oder: Wohin auch der Kaiser zu Fuß geht

Übliche Grußformeln waren in Stolzenburg bei Ankunft „Gott helf Euch!“ und beim Abschied: „Gott erhalt Euch!“. Eine etwas persönlichere Art des Grußes war: „Wohin gehst du/Wohin geht Ihr?“ oder, wenn der Gegrüßte auf dem Heimweg war (da man ja wusste, wo er wohnte): „Woher kommst du/Woher kommt Ihr?“ Wenn es jemand war, den man nicht duzte, sprach man ihn/sie nämlich mit „Ihr“ an. Es gab Ende des vorigen Jahrhunderts noch viele Familien, in denen die Kinder auch ihre Eltern mit „Ihr/Euch“ und nicht mit „Du“ ansprachen.
Wenn mehrere Nachbarn beisammen standen oder auf der Bank vor dem Haus saßen und von der schweren Feldarbeit ausruhten, konnte man sie im Vorbeigehen auch schon mal fragen:
„Bespreicht Ihr Ech, bespreicht Ihr Ech?“ (Besprecht Ihr Euch, besprecht Ihr Euch?)
Nun war mein Bruder schon immer Mutters Liebling, er half ihr gern bei der Hausarbeit und machte sich auch handwerklich in Haus und Hof recht nützlich. Zuweilen konnte er ein rechtes Schlitzohr sein und manchmal einfach nur ein Witzbold. Dann erntete er dafür Applaus, sogar von den strengen Eltern. Dazu fällt mir Folgendes ein:
Auch nachdem fließendes Wasser und Badezimmer in den dörflichen Haushalten Einzug gehalten hatten, war das stille Örtchen meist weiterhin ein Holzhäuschen im Garten oder hinterm Haus. Immer etwas abseits gelegen, deshalb hieß der Gang dorthin auch „auf die Seite gehen“. Das Pfarrhaus war da keine Ausnahme, nur in so weit, als dass es hier nicht eine, sondern ZWEI von diesen notwendigen Einrichtungen gab, und zwar nebeneinander am Ende des Ganges in Richtung Garten zu finden. Als mein Bruder einmal mit Riesenschritten die Treppe zum Haus hochrannte, hörte er aus der Richtung dieser Örtlichkeiten zwei ihm bekannte Stimmen, die sich durch die Trennwand über gewöhnliche Alltagsdinge unterhielten, und so rief er schlagfertig und frisch von der Seele weg: „No, bespreicht Ihr Ech, bespreicht Ihr Ech?“

Astrid Karin Thal geb. Schneider, August 2021

Mein anderer Bruder, der Lebensretter

Ich war knapp zwei Jahre alt und spielte mit meinem großen Bruder mit Papierschiffchen im Garten am Rand der Zisterne, die ungefähr 1 m tief und gerade voll mit Regenwasser war.
Es kam, wie es kommen musste, ich plumpste von dem Mäuerchen, auf dem ich kniete, ins Wasser. Eine Bekannte war in der Nähe, stand jedoch so unter Schock, dass sie erst ins Haus lief, um meine Großmutter zu holen. Mein großer Bruder aber fischte mich geistesgegenwärtig aus dem Bassin. Danke, Bruder! Auch wenn du als 10-Jähriger – eigentlich – nicht für mich verantwortlich warst, hast du instinktiv das Richtige getan. Ob die Eltern sich bei dir je bedankt haben? Wahrscheinlich nicht. Des Öfteren jedoch hat meine Mutter diese Begebenheit Verwandten und Freunden erzählt. Was auch eine Form der Dankbarkeit sein kann. Jedenfalls warst du der Held. Und ich am Leben. Also win-win für beide!

Astrid Karin Thal geb. Schneider, August 2021

Ein Zimmer mit Aussicht

Erinnerungen an Stolzenburg in den 60er Jahren

Den kleinsten und gleichzeitig freundlichsten und sonnigsten Raum im Pfarrhaus bewohnte die Großmutter. Das Zimmerchen hatte zwei Fenster, eines nach Süden zum Garten hin und eines nach Westen mit Blick auf die alte, ehrwürdige Kirche (as haurz Kirch) mit der Jahreszahl 1742. Das ist nicht das Baujahr sondern das Jahr einer von vielen Renovierungen. Die Kirche ist natürlich viel älter.

Zwischen Pfarrhaus und Kirche führte ein holpriger Hohlweg zur Burg hinauf und dann weiter zu den vielen Häusern, die hinter der Burg lagen.
Das Pfarrhaus sollte einen neuen Anstrich bekommen. Fra Fårrerän stellte sich ein kühles und apartes Hellgrau vor, aber es wurde leider ein sehr dunkles Grau. Das alte, geschichtsträchtige Haus sah dementsprechend trostlos aus. Daran konnte selbst die etwas ausgefallene Architektur mit den Treppengiebeln nichts ändern.

Großmutter saß oft am offenen Fenster in der Abendsonne. Einmal hörte sie die Vorbeigehenden sagen: Welch blöde Farbe man diesem Haus doch gegeben hat! Ce farbă proastă au dat la casa asta! Ob die Leute wirklich ‚farbă‘ gesagt oder meine Grisi das rumänische Wort ‚culoare‘ nicht kannte oder vergessen hatte – das werden wir nicht mehr herausfinden.

Wembley 1966

Ich weiß nicht, wie viele Fernsehgeräte es 1966 in Stolzenburg gab. Eines jedenfalls stand in einem Gebäude der Staatsfarm. Und alle, die Interesse hatten, konnten dort das WM-Finale 1966 Deutschland ¬- England mit verfolgen. Ich war zwölf und mein Vater nahm mich – ohne dass ich viel betteln musste – am späten Abend mit. Vielleicht ahnte er, dass es ein denkwürdiges Spiel werden würde?

Die Zuschauer teilten sich in zwei Lager: die Rumänen hielten mit den Engländern – entweder aus Überzeugung oder einfach nur, um uns zu ärgern – und wir jubelten, wenn die deutsche Mannschaft Tore schoss. Leider jubelten zum Schluss nur die andern und wir konnten uns lediglich über das Tor, das möglicherweise gar KEIN Tor war, ärgern. Es sollte als das sogenannte Wembley-Tor in die deutsche Fußballgeschichte eingehen.

Und jedes Mal, wenn seither von diesem Tor oder dem legendären Fußballspiel im Sommer 1966 gesprochen wird, denke ich an meinen Vater und sage in Gedanken: Danke! Danke, dass ich dabei sein durfte!

Astrid Karin Thal geb. Schneider

De Nårren kun!

Oder: Masken schützen nicht nur vor Corona

Da die Stolzenburger Fastnacht bereits an anderer Stelle hinreichend beschrieben wurde, soll hier lediglich eine lustige Begebenheit aus den 1970ern Erwähnung finden, die einmal mehr beweist, dass Narren die Wahrheit sagen oder anders formuliert: in vino veritas!

Die „Fäousnicht“ war von alters her eine recht ernste Veranstaltung der jeweiligen Nachbarschaft und folgte festgelegten Abläufen und Regeln. Sie begann in Stolzenburg mit „Zugang, Gericht und Versöhnung“ erst am Aschermittwoch – ähnlich der alemannischen Bauernfastnacht (sogenannte Buurefasnacht) – und endete am Samstag mit Geselligkeit und Tanz, wobei täglich frisch zubereitete deftig-leckere Speisen und Gerichte aufgefahren wurden.

Der Pfarrer saß wie gewöhnlich am Schreibtisch in seinem Amtszimmer, als vom Hohlweg zur Burg laute Stimmen, Akkordeonmusik und Gesang erschallten: „Guten Morgen, Frau Wirtin, was schenkt Ihr uns ein?…“. Er öffnete einen kleinen Flügel des hohen Doppelfensters und steckte neugierig den Kopf hinaus.
Die „Narren“ zogen in kleinen Gruppen von Haus zu Haus: Männer und manchmal auch Frauen, zum Teil auch in Faschingskostümen, also „maskoirt“. Einige von ihnen hatten schon recht viel getankt, denn in jedem Haus wurde neben Krapfen und Hanklich auch Hochprozentiges angeboten. Nun wollten sie hinauf zur Burg, um auch beim Burghüter „Eier, Eier, Fett, Fett, Fett…“ einzutreiben für die gemeinschaftliche Poparada (Eierspeise). Zu diesem Zwecke hatten sie „Henkelmann“ und „Ziecker“ dabei, um das Eingesammelte sicher zu verstauen, falls es zu einem Stolperer im steilen Gelände oder Ausrutscher auf Schnee und Eis kommen sollte.
Der Pfarrer beobachtete belustigt die Szene, machte aber nach außen hin ein ernstes Gesicht. Einer der Maskierten blickte hoch zum Fenster und rief: „Herr Fårr, steiche Se ännen den cioc!“ (wörtlich: Herr Pfarrer, stecken Sie den Schnabel ein!).
Ein kurzer, knapper Satz und sollte wohl bedeuten: Passt auf, heute ist Narrentag, da kann alles passieren! Oder: Steckt Eure Nase nicht in unsere Angelegenheit!
Dem schlagfertigen „Narren“ hatte der Schnaps die Zunge gelöst und eine Maske Schutz geboten, aber nicht vor einem Virus, sondern vor dem Erkanntwerden. Der Pfarrer jedoch quittierte den originellen, markigen Spruch mit einem Schmunzeln, schloss leise das Fenster und fügte die Begebenheit zu den anderen Anekdoten seiner langen – aber niemals langweiligen – Amtszeit hinzu.

(Astrid Karin Thal geb. Schneider) Januar 2021

Kirchgässer Fastnacht am 15.02.1964, gastgebender „Wirt“: Michael und Katharina Baier. Foto erhalten von Familie Baier. Pfarrersgarten

Mer gîăhn än‘t Thiater!

Am 25. November ist  Kathreinentag

Zur Zeit der Eintage, d. h. wenn die Tage kürzer werden, die Feldarbeit beendet und auch das Erntedankfest mit dem geschmückten Altar, den schönsten Früchten des Feldes und den riesigen Ähren- und Asternkränzen vorbei war, wurde der Spinnrocken rausgeholt und die Erwachsenen gingen abends in die Roockestuww oder zur Chor-, Tanz- oder Theaterprobe. Am 25. November wurde nämlich im Saal nicht nur zum Kathreinenball geladen, sondern auch meistens ein Volksstück dargeboten.

So war es jedenfalls bis vor 40-50 Jahren.

Zu der Zeit waren die Lehrer zusätzlich zum Schulunterricht auch zu „Kulturarbeit“ mit den Erwachsenen verpflichtet. Meine Mutter war mit ihren Kolleginnen für das Einstudieren eines Theaterstückes verantwortlich und hat, trotz vieler Verpflichtungen und eines vollen Arbeitstages, diese zusätzliche Aufgabe mit allabendlichen Proben sehr gerne übernommen, da es mit den talentierten Laienspielern der Gemeinde immer lustig zuging und viel gelacht wurde. Es war für sie alle eine Möglichkeit, zu entspannen und die Alltagssorgen für kurze Zeit hinter sich zu lassen.
Höhepunkt und ein Muss für jedermann war dann die Premiere am Abend des Kathreinenballs. Die Generalprobe fand am selben Nachmittag statt, da durften dann auch die Kinder dabei sein. Auf jeden Fall musste alles vor dem 1. Adventsonntag buchstäblich über die Bühne gehen, da ja bekannterweise auch die Adventszeit Passionszeit war (und ist!) und danach bis Weihnachten nicht getanzt oder gar ausgelassen gefeiert werden durfte.

Eine weitere Theateraufführung „mit Ball“ fand meistens noch anlässlich des Mariatages am 2. Februar oder alternativ auch an Ostern statt.

Einige der Mundartstücke waren so erfolgreich, dass die Stolzenburger Theatergruppe auch in den Nachbardörfern auftrat, „Der Dani Misch wird härresch“ schaffte es sogar bis nach Heltau!!!

Bei einer solchen Gastvorstellung in der Nachbargemeinde Großscheuern war meine Mutter vor der Aufführung mit Helfern dabei, das Bühnenbild zu gestalten, also eine Bauernstube einzurichten. Kommoden, Stühle, Gardinen und Wandbilder wurden herangeschleppt und an ihren Platz gestellt bzw. gehängt. Eine Großscheurner Helferin fragte gleich zu Beginn meine Mutter: „Fra Loihrerän, breochen Se net uch en Deesch?“ Meine Mutter dachte, die Frau meint „Dej“ (gleiche Aussprache wie Deesch). Das war nämlich der Name des rumänischen Präsidenten Gheorghe-Gheorghiu Dej, dessen großformatiges Porträt zu der Zeit in jeder Amtsstube und in jedem Klassenzimmer hängen musste. Meine Mutter verneinte. Nach einiger Zeit fragte die gute Frau wieder, ob nicht auch ein „Deesch“ benötigt werde, aber meine Mutter antwortete lachend, so als ob sie sagen wollte, dass Politik und Ideologie auf ihrer Bühne keinen Platz hätten: „Nä, nä, den Dej broche mer det mol net!“

Als dann die Stube fast komplett eingerichtet war, atmete meine Mutter erleichtert auf und sagte schließlich zu den Helfern: „Esi, und na broche mer nor noch en Däsch!“, worauf die Frau verzweifelt rief: „Dåt hun ich Se jo de geonz Zetch gefrächt!!!“

Ich wünsche allen Katharinen, Trengis und Kathis einen wunderschönen Namenstag! Und da erst vor ein paar Tagen auch die Elisabeth ihren Ehrentag hatte, gratuliere ich auch allen, die Lisi, Lis oder Lisken heißen! Bleibt gesund! (Astrid Karin Thal, geb. Schneider, im November 2020)

Kindergottesdienst in Stolzenburg

‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind…                                                           Im Juli 2020

Ja, manchmal waren es wirklich nur zwei: der Pfarrer, also mein Vater, und ich! An sommerlich-heißen Sonntagnachmittagen versuchte man meist, wenn sich die Gelegenheit bot, zu den Badeseen nach Salzburg zu gelangen. War das nicht möglich, suchten sich die Erwachsenen ein schattiges Plätzchen im Garten oder im kühlen, dicken Gemäuer des Hauses für ein Mittagsschläfchen und die Kinder waren froh, sich selbst überlassen zu sein. Ich aber musste erst mal zum Kindergottesdienst. Manchmal waren noch zwei, drei andere Kinder dabei – ich erinnere mich z. B. an drei Schwestern aus dem Transchement, etwas jünger als ich – aber nicht selten war ich das einzige Kind im Unterricht.

Im Sommer fand der Kindergottesdienst nicht in der Sakristei sondern in der Vorhalle des Südportals statt, mit der alten Kirchentüre als Kulisse, auf der heute noch die Lutherworte ‚Ein‘ feste Burg ist unser Gott…‘ zu lesen sind.

Da saßen wir uns nun gegenüber, mein Vater und ich: wir beteten, sangen einen Choral oder zwei und dann musste ich aus der Bibel vorlesen. Hier habe ich das erste Mal die Namen der biblischen Orte Kapernaum, Galiläa, Genezareth, Gethsemane, Mesopotamien, Kapadokien, Phrygien, etc. gehört, sie kamen mir vor wie aus Tausendundeinernacht.
45 Jahre später sollte ich auf einer Rundreise durch Israel einige dieser Orte mit eigenen Augen sehen dürfen. Wie sehr hätte ich es auch meinen lieben Eltern gegönnt, die historischen Stätten der Bibel selber zu besuchen, aber es hat nicht sollen sein. –

Der Sommer wehte einen unbeschreiblichen Duft nach Heu und Blüten in die Vorhalle (waren es die Akazien oder der Holunder?) und die hohen Bäume im Kirchhof spendeten großzügig Schatten an diesen heißen und friedlichen Sonntagnachmittagen. Schnell noch das Vaterunser heruntergebetet und weg war ich, auf der Suche nach den Freundinnen.

Ganz anders sah das im Spätherbst und Winter aus: wenn es auf Weihnachten zuging, vor allem am 1. Adventsonntag drängten sich fast alle Kinder der Gemeinde in den Gottesdienst, denn jedes wollte zumindest ein Gedicht vortragen, die schüchternen fanden einen Platz im Kinderchor und die Konfirmanden durften ein Krippenspiel aufführen. Jetzt war richtig Leben in der Bude, sprich in der Sakristei und der Kirche!

Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später: was gäbe ich dafür, noch EINMAL an einem heißen Sommertag in der kühlen Vorhalle unserer Kirche meinem Vater gegenüber zu sitzen, in den schattigen grünen Kirchhof zu blicken und von Kapernaum und Kapadokien zu träumen. – –

Astrid Karin Thal, geb. Schneider im Jahre 2020

Zu früh geläutet!

Wie die meisten Stolzenburger meiner Generation oder noch älter wissen, begann der Sonntagsgottesdienst im Sommer um 10 und im Winter um 11 Uhr. So circa. Denn ganz exakt auf die Minute war es nicht immer möglich.
Zunächst zum „in die Kirche läuten“, das aus einer Zeit stammt, als die Menschen noch keine Uhren hatten und das Läuten auch an Werktagen die Zeit angab, nämlich das Morgen-, Mittags- und Abendläuten, also die sogenannte Betglocke:

„Et liëtch än de Kirch!“:

Zuerst läutete der Pfarrer ein kleines Glöckchen, das außen an der Hauswand des Pfarrhauses gegenüber der Kirche angebracht war, jedoch bequem von innen mit einem Hebel betätigt werden konnte. Das hörte die Kirchendienerin, diese begab sich schnell in die Kirche, wo sie gleich am Südeingang mit einem langen Seil das Glöckchen oben im Dachreiter betätigte. Dies wiederum vernahm der Burghüter oben auf der Burg und nun läutete er erst jede der drei Glocken einzeln, ungefähr im Abstand von ca. 10 Minuten und danach alle drei Glocken zusammen, dann hieß es: Et liëtch zesummen! Zu diesem Zeitpunkt waren alle Kirchgänger angekommen, auch diejenigen, die weiter weg oder gar am Ende der Gemeinde wohnten. Denn sie wussten genau, ob sie beim ersten, zweiten oder dritten Läuten losgehen mussten, um pünktlich da zu sein. Sie standen dann entweder im Kirchhof Spalier oder saßen schon in der Kirche.
Bei dem letzten, dem Zusammenläuten aller drei Glocken, kam dann der Pfarrer, meistens mit seiner Familie. Die Pfarrersfrau war auch Lehrerin und zwar eine gewissenhafte: Sie schleppte jeden Tag einen Stapel Schulhefte mit nach Hause zum Korrigieren, hatte drei Kinder und einen großen Haushalt zu führen mit Gemüse-, Blumen- und Obstgarten und schaffte es trotzdem meistens, sowohl das Sonntagsmittagessen zu kochen UND zum Gottesdienst zu erscheinen.
Wie sie das hinkriegte, ist mir bis heute ein Rätsel.
Demzufolge konnte es schon mal vorkommen, dass sie meinem Vater zurief: „Warte noch ein wenig mit dem Läuten!“ Oder, wenn das Glöckchen am Haus schon bimmelte und die Maschinerie, neudeutsch der Countdown, bereits in Gang gesetzt war:
„Jesses, Erni, ist es denn schon so spät? Ich bin noch nicht fertig mit den Mittagsvorbereitungen und muss mich ja auch noch fertig machen!?“
So wartete mein Vater dann noch gnädig ein paar Minuten, war aber doch immer bestrebt, den Gottesdienst pünktlich zu beginnen.
Ich sehe meine Mutter heute noch, wie sie abgemüht und abgehetzt (heute sagt man ‚gestresst‘) von der Küchenarbeit, schnell in die Sonntagsklamotten schlüpfte, mit Hut und Handschuhen, Handtasche und Gesangbuch gerüstet, losging und neben meinem Vater Schritt zu halten versuchte, während er, mit Bibel und Gesangbuch unterm Arm, in Gedanken vielleicht schon bei seiner Predigt, gemächlich und weit ausschritt.
Heute glaube ich, dass es noch viele Hausfrauen im Dorf gab, die auch erleichtert waren, wenn die Glocken nicht immer pünktlich läuteten und sie vor dem Kirchgang noch einiges im Haus erledigen konnten, ähnlich der Fra Fårrerän oder, wie man in einigen Gemeinden in Siebenbürgen sagte, Fra Muotter.

Was mir ebenfalls bis heute schleierhaft geblieben ist: Wie schaffte es meine liebe Nachbarin, bei der ich mehr als meine halbe Kindheit verbracht habe, drei konfirmierte Mädchen in Tracht anzuziehen und trotzdem auch noch selber pünktlich zum Gottesdienst zu erscheinen? Eben grad noch hatte sie uns dreien die letzten Maschen und Fruonsen angelegt, so dass wir beim dritten Läuten bequem losschlendern konnten – wir hatten es ja nicht weit – und als wir, die Gruißmaid im Gänsemarsch in die Kirche einzogen und unsere Plätze im Chor der Kirche einnahmen, saß meine Nachbarin ebenfalls schon bei den Frauen auf ihrem gewohnten Platz.

Vor dem Gottesdienst

Bild———–Buch

In den 50er und frühen 60er Jahren hätten es einige gern gesehen, wenn der Pfarrer ohne seine Familie zum Gottesdienst erscheint: Der rumänische Schuldirektor hatte nämlich der Pfarrersfrau, die ja auch Lehrerin an der Staatsschule war, nahe gelegt, dass es von den Staatsorganen nicht gern gesehen werde, wenn sie und die Kinder auch zur Kirche gingen. Am besten sollten vor allem die Söhne am Sonntagvormittag anderweitig beschäftigt werden, mit Lesen oder Hausaufgaben zum Beispiel. Meine Mutter hat sich jedoch nicht davon abbringen lassen, ihren Glauben zusammen mit ihrer Familie auszuüben. Sie fragte sich aber oft, ob es nur Zufall war, dass der Schuldirektor P. wiederholt genau dann, wenn die Pfarrersfamilie auf dem Weg zur Kirche war, auf der gegenüberliegenden Hauptstraße vorbei spazieren musste?!

Das war nur die eine Seite der Medaille. Gute „Ratschläge“ gab es aber auch von der anderen Seite: Der Arbeitgeber und Vorgesetzte meines Vaters ließ ihm gegenüber einmal Ähnliches verlauten, nämlich dass es nicht gern gesehen werde, wenn die Frau des Pfarrers in der Staatsschule, also in einem kommunistisch-ideologisch geprägten Bereich Dienst tue. Mit drei Kindern und einer großen Gemeinde sei ja auch so schon genug zu tun für eine Mutter und Pfarrersfrau…

So also war damals das Leben vum Härr Fårr uch der Fra Loihrerän: Zwischen zwei (wenn auch ungleichen) Mächten! Man musste schon aufpassen, nicht zerrieben zu werden. Ich glaube, meine Eltern haben es tapfer gelebt, das Leben, nach bestem Wissen und Gewissen, ohne ihr Gesicht zu verlieren. –
(Astrid Karin Thal geb. Schneider, Oktober 2020)

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